BÜCHERKISTE

Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben"

Dieses Buch - Roman, Geschichtserzählung und Liebesgeschichte in einem und doch unter dem Genre Biographie laufend - hat Marcel Reich-Ranicki im Jahre 1999 geschrieben und sehr bald wurde es zu einem häufig gekauften und viel gelesenem Bestseller.

Die Biographie besteht aus fünf Teilen und Reich-Ranicki erzählt sehr eindrucksvoll den Verlauf seines bisherigen Lebens. Hierbei ist vor allem die politische und geschichtliche Darstellung interessant, denn als Kind und Jugendlicher hat Reich-Ranicki, gebürtiger Pole, eine Zeit lang in Berlin gelebt und emigrierte schließlich, da er Jude war, 1938 mit seiner Familie nach Warschau, wo er jedoch bald erfahren musste, dass die Nationalsozialisten auch hier ihre Macht ausübten. So verbrachte er einige Jahre im Warschauer Getto, wo er auch seine heutige Frau kennenlernte und sehr bald heiratete, damit man sie nicht ins KZ deportieren konnte. Das Ehepaar hat den Krieg und die Gefahr überlebt, weil ein Pole es bei sich im Haus vor den Nazis versteckt hielt. Reich-Ranickis Eltern hingegen, sein Bruder und fast alle seine Verwandten und Freunde sind im KZ gestorben.

Letztlich ist es ihm nach dem Krieg mit Mühe gelungen, wieder in Deutschland Fuß zu fassen und mit jahrzehntelanger harter Arbeit wurde er zu dem, was er heute ist – ein herausragender Literaturkritiker, der zwar nicht bei jedem beliebt ist, dem man aber zumindest eine clevere Geistesschärfe und eine unheimliche große Kenntnis von der deutschen Literatur nicht abstreiten können wird.

Bewundernswert ist, dass Reich-Ranicki nie in seinem Leben studiert hat und dennoch ein absoluter Kenner der –vor allem- deutschen Kultur und Literatur ist. Fasziniert hat mich seine Leidenschaft und Liebe zur Literatur, die für ihn lebensnotwendig und lebensrettend ist, und hochinteressant sind auch seine Beschreibungen sehr vieler Schriftsteller, die er im Laufe der Zeit getroffen hat.

Meiner Meinung nach hat er mit seinem Buch genau das erreicht, was er als Kritiker von Schriftstellern fordert: Er schafft es, auf einem hohen Niveau zu unterhalten, er langweilt nicht mit endlosen Beschreibungen, er kommt zur Sache und weiß sehr viel Interessantes zu berichten. Ich habe die Biographie mit Spannung und Begeisterung gelesen und obwohl schon ab und zu eine gewisse Selbstliebe zwischen den Zeilen mitschwingt, kann ich diese Lektüre nur empfehlen. Viel Spaß beim Lesen!

"Die Frage, was Thomas Mann, der nun in der Schweiz wohnte, angesichts dessen, was sich in Deutschland abspielte, tun werde, gewann für mich, ich übertreibe nicht, lebenswichtige Bedeutung. Als ich an jenem Abend im Februar 1937 die ersten Worte seines Briefes hörte, war ich sehr unruhig, ich glaube, ich zitterte. Ich hatte ja keine Ahnung, worauf ich mich gefaßt machen sollte, wie er sich also entschieden hatte, wie weit er gegangen war. Doch schon der dritte Satz hat die Unsicherheit behoben. Denn hier war von den ‚verworfenen Mächten‘ die Rede, die Deutschland moralisch, kulturell und wirtschaftlich verwüsteten‘. Da konnte kein Zweifel mehr sein: Thomas Mann hatte sich in diesem Brief zum ersten Mal und in aller Deutlichkeit gegen das ‚Dritte Reich‘ gestellt.

[...]

1937 habe ich noch nicht wissen können, daß Thomas Mann während des Zweiten Weltkrieges in der internationalen Öffentlichkeit eine Rolle spielen würde, die noch nie einem deutschen Schriftsteller zugefallen war: Er wurde zur repräsentativen, zur weithin sichtbaren Gegenfigur. Sollte ich mit zwei Namen andeuten, was ich als Deutschtum in unserem Jahrhundert verstehe, dann antwortete ich, ohne zu zögern: Deutschland – das sind in meinen Augen Adolf Hitler und Thomas Mann. Nach wie vor symbolisieren diese beiden Namen die beiden Seiten, die beiden Möglichkeiten des Deutschtums. Und es hätte verheerende Folgen, wollte Deutschland auch nur eine dieser beiden Möglichkeiten vergessen oder verdrängen.

Nach dem letzten Satz des Briefes wagte niemand etwas zu sagen. [...] Ich möchte, sagte ich, nicht zu spät nach Hause kommen, da ich am nächsten Tag eine wichtige Klassenarbeit zu schreiben hätte. Das war gelogen. In Wirklichkeit wollte ich allein sein – allein mit meinem Glück.

(Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. DTV GmbH & Co. KG, München 2000. S. 103-105)

Cosima Kießling

 

 

  

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