Max Frisch – "Stiller"

Wenn man den Namen Max Frisch hört, denkt man gewöhnlich an "Homo faber", seinen wohl berühmtesten Roman, der auch verfilmt wurde. Ein Thema für sich und vielleicht komme ich gelegentlich einmal darauf zurück. Doch heute möchte ich über ein anderes, sehr eindrucksvolles Buch sprechen, den 1954 erschienenen Roman "Stiller", den ich damals im Leistungskurs Deutsch in der Schule gelesen habe.

Jim Larkin White, angeblich Amerikaner, wird bei seinem Grenzübertritt in die Schweiz festgenommen und verdächtigt, mit dem seit sieben Jahren verschollenen und in eine Agentenaffäre verwickelten Bildhauer Ludwig Anatol Stiller identisch zu sein.

Der Hauptteil des Romans besteht aus tagebuchartigen Aufzeichnungen des Protagonisten, die er während der Untersuchungs-Haft führt. Der festgenommene White sträubt sich bis zum letzten, der gesuchte Stiller zu sein und beteuert dies immer wieder nachdrücklich in seinen Schriften. Dennoch sprechen beide Ichs überlappend in zwei Zeitebenen: Vergangenheit und Zukunft. Bis zum Ende ist man als Leser nicht sicher, ob White nun tatasächlich Stiller ist, wie es schließlich aus einem gerichtlichen Beschluss ergeht, oder ob eine große Verwechslung vorliegt. Neben der bunten Schilderung von Stillers Leben, der im spanischen Bürgerkrieg versagt hat, der in seiner Ehe mit einer ehemaligen Tänzerin, Julika, versagt, der dann nach Amerika flieht und der auch nach seiner Rückkehr versagt, geht es eben genau um diese Identitätskrise der Hauptperson, um die neurotische Sehnsucht nach einem anderen Ich, nach einem erfüllten Leben. White – Stiller? Stiller – White?

Der zweite Teil des Romans, als Nachwort konzipiert, ist von Whites Staatsanwalt verfasst und beschreibt Stillers weiteren Weg.

Mir persönlich hat das Buch damals sehr gut gefallen, es war das erste, was ich von Max Frisch gelesen habe, und die Frage nach der wahren Identität des Protagonisten hat mich beschäftigt und zum Weiterlesen gedrängt. Doch auch die Geschichte, nämlich Stillers Leben, das abenteuerlich und aufregend ist/war, hat mich gepackt und fasziniert.

Ich empfehle den Roman jedem, der Lust auf anspruchsvolle Literatur hat, die zugleich einen selten hohen Unterhaltungswert besitzt und die schon von der ersten Seite an (wie es auch gleich meine ausgewählte Kostprobe zeigen wird) Interesse und Neugierde erweckt, die sich im Laufe des Lesens steigert. Auch ich habe nun wieder Lust bekommen, "Stiller" ein zweites Mal zu lesen!

Cosima Kießling

"Erstes Heft

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, ich schwöre es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat, und da es jetzt in meiner unsinnigen Lage (sie halten mich für einen verschollenen Bürger ihres Städtchens!) einzig und allein darum geht, mich nicht beschwatzen zu lassen und auf der Hut zu sein gegenüber allen ihren freundlichen Versuchen, mich in eine fremde Haut zu stecken, unbestechlich zu sein bis zur Grobheit, ich sage: da es jetzt einzig und allein darum geht, niemand anders zu sein, als der Mensch, der ich in Wahrheit leider bin, so werde ich nicht aufhören, nach Whisky zu schreien, sooft sich jemand meiner Zelle nähert."

(Max Frisch: "Stiller". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1954. S. 9)

 

Zurück zur Inhaltsseite Nachricht an uns

BÜCHERKISTE

 

  

Diese Inhalte werden nicht mehr aktualisiert und enthalten ggf. veraltete Informationen