Was Hoffnung ist,
begreift man nur in der
Hoffnungslosigkeit
Nothilfefonds
für Migranten gegründet
Berlin - In meiner Verzweiflung wende
ich mich heute an Sie. Bitte helfen Sie mir. So
oder ähnlich beginnen die meisten Briefe, die sich
auf dem großen Schreibtisch von Schwester Cornelia
Bührle stapeln. Der Schreibtisch ist so wuchtig,
daß er fast ihr ganzes Büro im Haus der Caritas
in der Tübinger Straße ausfüllt. An den
Wänden stehen zimmerhohe Regale, die bis unter die
Decke mit gelben, grünen und weißen
Aktenordnern gefüllt sind.
Flüchtlinge BRD oder
Flüchtlinge inter. ist auf ihre
Rücken geschrieben.
Seit gut fünf Jahren ist die Ordensfrau die
Erzbischöflich Beauftragte für Migrationsfragen
im Erzbistum Berlin. Kardinal Georg Sterzinsky hatte die
Volljuristin nach Berlin geholt, um von ihr kompetente
Beratung in Fragen der Flüchtlings-, Migrations- und
Ausländerpolitik zu erhalten. Jetzt plant Schwester
Bührle eine Aktion, die, wie sie sich
ausdrückt, in Berlin bislang einzigartig
ist. In der Werkstatt der
Kulturen wird am 20. und 21. November unter der
Schirmherrschaft von Kardinal Georg Sterzinsky ein
Benefiz-Fest gefeiert. Schwester Bührle:
Der Erlös kommt ausschließlich dem
neu gegründeten Nothilfefonds für
Migranten zugute.
Seitdem die Schwester von der Gemeinschaft
Sacré-Coeur (Heiliges-Herz) - einem in Frankreich
gegründeten und von Beginn an international
ausgerichteten Erzieherorden - ihre schwere und nicht
selten frustrierende Arbeit in Berlin aufgenommen hat,
erhielt sie immer wieder Anfragen nach finanzieller
Hilfe. Menschen aus allen Himmelsrichtungen kamen mit
ihren Bitten zu ihr. Damals gab es im Berliner
Ordinariat einen kleinen Fonds, aus dem Soforthilfe bis
zu einem Betrag von rund 250 Mark geleistet werden
konnte, informiert Schwester Bührle. Wegen
der Geldknappheit mußte später ein Spendenkonto
eingerichtet werden. Die Ordensfrau erinnert sich:
Es wurde sehr wenig gespendet, das Geld reichte
nie aus. Die Anfragen nach schneller,
unbürokratischer Hilfe stiegen jedoch
überproportional. Schwester Bührle wollte den
hilfsbedürftigen Menschen aus dem Irak, aus Bosnien,
aus Zaire oder der Ukraine beistehen. Aus
meiner christlichen Überzeugung heraus darf ich
nichts unversucht lassen, Menschen zu helfen,
sagt sie und fügt hinzu: Zum ersten Mal
habe ich hier begriffen, was Hoffnung ist. Das begreift
man nur in der Hoffnungslosigkeit.
Wie sehen die konkreten Probleme aus, mit denen
Ausländerinnen und Ausländer sowie Aussiedler
und Aussiedlerinnen auf dem Gebiet des Erzbistums Berlin
- in Berlin, Brandenburg und Vorpommern - konfrontiert
werden? Schwester Bührle erzählt von einer
jungen Ukrainerin, die mit dem Versprechen nach Berlin
gelockt wurde, hier einen Arbeitsplatz als
Sekretärin zu bekommen. Sofort nach ihrer Ankunft
landete sie im Netz einer Zuhälterbande. Sie wollte
aus diesem Milieu ausbrechen. Doch der Gang zur Polizei
kam für sie nicht in Frage, mußte sie doch
brutale Racheakte fürchten. Auf Vermittlung einer
kirchlichen Mitarbeiterin ergab sich die
Möglichkeit, die Ukrainerin
freizukaufen. Sie konnte in ihre
Heimat zurückkehren. Schwester Bührle:
Hierfür wurde gesammelt. Ganz
aktuell sind die Schwierigkeiten, die anerkannte
Flüchtlinge aus dem Irak, zumeist Kurden aus dem
Nordirak, in Berlin haben. Wenn kurdische
Flüchtlinge ihre Familienangehörigen nach
Berlin kommen lassen möchten, müssen Kinder
oder Ehepartner sogenannte
Speicheltests in Kauf nehmen. Ziel
dieser entwürdigenden Prozedur ist der genetische
Nachweis verwandschaftlicher Beziehungen. Pro Kopf kostet
dieser Test inzwischen 275 Mark. Wir erleben
hier jeden Tag psychisch gebrochene Menschen, die sich
Sorgen um ihre Familien machen, die sich hoch verschulden
müssen, um überhaupt eine Chance des
Zusammenlebens zu erhalten, schreibt die
Ausländerbeauftragte des Berliner Senats an
Schwester Bührle. Wir wären Ihnen
dankbar, wenn der Nothilfefonds auch für diesen
Personenkreis zur Verfügung stände,
heißt es in dem Schreiben weiter. Oder da ist eine
kleine Familie aus Angola, die zur katholischen Gemeinde
St. Antonius gehört. Mutter und Vater studieren in
Berlin und haben ein siebenjähriges Kind. Die junge
Frau erwartet ihr zweites Kind und stellt beim Sozialamt
einen Antrag auf einmalige Beihilfe für eine
Babyausstattung. Hier wird ihr mitgeteilt, daß ihre
Aufenthaltgenehmigung zu Studienzwecken sie nicht zum
Empfang der beantragten Sozialhilfe berechtigt. Mit der
Bitte um Hilfe wenden sich die Eheleute aus Afrika an
Schwester Bührle.
Der Nothilfefonds für Migranten
soll Menschen in den kurz skizzierten oder in
ähnlichen Notlagen zugute kommen. Er soll durch
Spenden gespeist werden. Schwester Bührle:
Wir vergeben keine Kredite. Wer zu uns kommt,
wird jedoch gebeten, sich aus moralischer Verpflichtung
um eine Rückzahlung zu bemühen.
Erzbistum Berlin, Berliner Bank AG, BLZ 100 200 00,
Konto 035 646 1400, Stichwort
Migrantenhilfe.
Thomas Steierhoffer
Nr. 46/98 vom 15. November 1998
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