Die Hoffnung brauchen wir nicht selbst
zu produzieren
Hirtenwort des Erzbischofs von Berlin
zur österlichen Bußzeit 1998
Liebe Schwestern und Brüder!
Zu Beginn der österlichen Bußzeit möchte
ich wieder allen katholischen Gemeinden, Gemeinschaften,
unseren christlichen Familien und jedem einzelnen
Gläubigen ein herzliches Grußwort sagen.
Im vergangenen Jahr habe ich in meinem Fastenhirtenwort
das Anliegen der Vorbereitung auf das Jubiläumsjahr
2000 aufgenommen. Mit der Geburt Jesu Christi kam die
Zeitenwende. In Ihm ist "die Güte und
Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters,
erschienen."1 Deshalb lautete das Thema des ersten
Vorbereitungsjahres 1997:
Jesus Christus - das menschliche Antlitz Gottes.
Ein Leitwort, ein Themenschwerpunkt für eine gewisse
Zeit kann eine Hilfe dazu sein, Neues und oder auch in
Vergessenheit Geratenes wieder zu entdecken.
Können wir als Kirche des Erzbistums Berlin im
Rückblick sagen, daß wir im vergangenen Jahr
glaubwürdig Zeugnis gegeben haben in unsere Welt, in
unsere Zeit hinein?2
Kann jeder und jede von uns, Sie und Du und ich,
bezeugen, daß wir in der je eigenen Situation
ehrlich bemüht waren, unsere persönliche
Entscheidung für Jesus Christus zu erneuern und zu
leben?
Wie dankbar dürften wir dann feststellen, daß
wir Ihm nähergekommen sind: dem menschgewordenen,
dem leidenden und sterbenden, dem auferstandenen Jesus
Christus, in dem sich uns Gott selbst zuwendet.
Auch für das zweite Vorbereitungsjahr auf die
Jahrtausendwende liegt uns ein Vorschlag zu geistlicher
Besinnung vor. Ich möchte heute erneut einladen,
auch dieses Jahresthema als Chance zu verstehen für
das persönliche geistliche Leben wie für das
Leben unserer Gemeinden und Gemeinschaften in Liturgie,
Diakonie und Apostolat.
Die Einladung für das Jahr 1998, also auch für
diese österliche Bußzeit, lautet:
GOTTES GEIST IN DER WELT
und die durch Ihn gewirkten Hoffnungszeichen neu zu
entdecken. Gottes Geist, der nicht "ein Geist der
Verzagtheit" ist, sondern "Geist der Kraft, Liebe und
Besonnenheit, wie der Apostel sagt.4
(Unsere Situation)
Die Gemeinden und die Gefährten des Apostels waren
Kinder ihrer Zeit. Doch wir wissen alle: Verzagtheit,
Mutlosigkeit, das hat es nicht nur damals gegeben,
vor
knapp zweitausend Jahren, als Paulus seinen Brief an
Timotheus schrieb. Auch wir sind Kinder unserer Zeit,
einer Zeit in der so viele "zwischen Hoffnung und Angst
hin und her getrieben" sind.5
Wir bleiben nicht unberührt von den globalen
Problemen, vom Auseinanderklaffen der Schere zwischen den
armen und den wohlhabenden Völkern. Wir
fürchten die Bedrohung des Friedens und
Umweltkatastrophen, auch in entfernten Gegenden der
Welt.
Ich erinnere an die wirtschaftlichen Sorgen bei uns, die
viele belasten. - Wenn ich nur einige der drängenden
Probleme nenne, so wird jeder Zuhörer die eigenen
Erfahrungen ergänzen können. Besorgt sehen wir
die zunehmende Arbeitslosigkeit und das Fehlen von
Ausbildungsplätzen, vor allem bei uns in den neuen
Bundesländern. Besondere Sorge bereitet mir die
schwieriger werdende Situation von Familien mit mehreren
Kindern. Wir sehen die Not derer wachsen, die ohnehin am
Rande der Gesellschaft leben.
Aber auch Menschen, die nicht unter materieller Not
leiden, werden umgetrieben von Zukunftsangst: Werden die
Renten gesichert sein? Wer kümmert sich um die
Alten, die Kranken, Behinderten, wenn es den bergenden
und schützenden Raum der Familie nicht mehr
gibt?
Nicht zuletzt blicken viele von uns besorgt auf die
Spannungen in der Kirche selbst, die sie manchmal zu
zerreißen und zu spalten drohen. Wie oft geht es
hier - besonders aber in der Präsentierung der
Probleme durch gewisse Medien - nicht um die Wahrheit und
nicht um den Auftrag Christi an Seine Jünger.
Scheint es nicht manchmal, als sei uns Sein Auftrag,
"Licht der Welt" zu sein, äußerst unangenehm?
Wollen wir nicht lieber unerkannt unter allen anderen
sitzen, auch wenn es im Dunkeln ist?
Selbst diejenigen, die normalerweise mit Optimismus an
die Lösung von Problemen herangehen, sind nicht
selten in der Gefahr zu verzagen - und sei es nur wegen
einer auch bei uns herrschenden, allgemein als
bedrückend und resignativ empfundenen
Atmosphäre.
Gilt nicht auch von uns Katholiken hierzulande, was
jemand über die Deutschen gesagt hat, die das
Geschenk der Einheit so wenig zu würdigen wissen:
daß sie, daß wir "Weltmeister im Jammern"
sind?
(Hoffnungszeichen suchen)
In dieser Situation mutet uns die Kirche zu, Gottes Geist
und die durch Ihn gewirkten Zeichen der Hofinung zu
entdecken. Diese Zumutung enthält zunächst
etwas sehr Tröstliches: Wir brauchen nämlich
nicht selbst Hofinung zu produzieren; wir sollen nicht
die "Macher" von Zuversicht sein, müssen nicht
krampfhaft die Parole "optimistisch denken!"
vertreten.
Wir sind vielmehr eingeladen zu entdecken. Entdeckt
werden kann nur, wer oder was schon da ist, wenn auch
verborgen.
In einer der chassidischen Geschichten erzählt der
jüdische Philosoph Martin Buber von dem Kind, das
weinend zum Großvater kommt, untröstlich
darüber, daß es sich
versteckt, der Freund es aber gar nicht gesucht hat. Der
Großvater, ein jüdischer Lehrer, bricht
darüber in Tränen aus und sagt: "So spricht
auch Gott: 'Ich verberge mich, aber keiner will mich
suchen."'
Als Christen sollten wir uns fragen: Liegt nicht hier
eine Ursache für unsere Verzagtheit, für unsere
Ängste, für unsere Hoffnungslosigkeit, auch
für unsere Unglaubwürdigkeit: daß wir
aufgehört haben, die Spuren Gottes, die Zeichen
Seiner Anwesenheit, die Hoffnungszeichen Seines Geistes
in unserer Welt und in unserer Zeit zu suchen? Lassen wir
uns in dieser österlichen Bußzeit neu dazu
ermutigen!
Wir müssen jedoch damit rechnen, daß diese
Suche begleitet sein wird von Täuschungen und
Enttäuschungen. Schon das Kommen Gottes in diese
Welt, das wir im Jahr 2000 feiern, war für die
Gläubigen Israels in Wirklichkeit eine herbe
Enttäuschung. Ihre Hoffnungen waren auf einen
Messias gerichtet, der ein mächtiger Führer
sein, die jüdische Tradition bestätigen und das
Volk von römischer Fremdherrschaft befreien
würde. Nichts und niemand entsprach diesen
Hoffnungen so wenig wie das Kind von Betlehem!
So kann es auch heute sein: daß die
Hoffnungszeichen, die uns der Geist Gottes schenkt, nicht
jene Zeichen sind, auf die viele warten - Zeichen
wirtschaftlichen Aufschwungs oder wenigstens Zeichen
guten Willens, wie sie Regierungen und Parlamente, Tarif-
und Sozialpartner setzen können.
Die Evangelisten berichten uns mehrfach, daß die
Zuhörer Jesu von Ihm "Zeichen" forderten,
Wunder", wie wir sagen würden.6 Indem Er
Außergewöhnliches bewirkte, sollte Jesus ihnen
den "Beweis" dafür liefern, daß Er der von Gott
Gesandte ist. Der heilige Paulus weiß, daß
solche Erwartungen nicht auf das Volk Israel
beschränkt sind: "Die Juden fordern Zeichen, die
Griechen suchen Weisheit" - wir könnten die Reihe
der Erwartungen durch die Geschichte bis in die Gegenwart
fortführen - doch der Apostel stellt klar: "Wir
dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten:
für Juden ein empörendes Ärgernis,
für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber
... Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit."7
Nur wenn wir dies bedenken, werden wir die Zeichen
entdecken oder wiederentdecken können, die der Geist
Gottes heute wirkt.
(Die Sakramente)
In der Gemeinschaft der Kirche begleiten uns die
großen Hoffnungszeichen, die Sakramente, durch unser
ganzes christliches Leben. Drei dieser Hoffnungszeichen
werden uns in der österlichen Bußzeit neu in
Erinnerung gerufen.
- Wir sind eingeladen, in der Osternacht das
Taufversprechen zu erneuern. Durch die Taufe sind wir
Glieder der Kirche geworden. Unsere Taufpaten haben an
unserer Stelle ein brennendes Licht entgegengenommen: als
Mahnung, die Gnade der Taufe zu bewahren, aber auch als
Zeichen dafür, daß jeder Getaufte ein
leuchtendes Symbol der Hoffnung für die Menschen
sein soll.
- Gerade in der Fastenzeit bittet uns die Kirche
eindringlich, im Sakrament der Buße aufs neue die
Versöhnung mit Gott zu suchen. Nur als mit Gott
Versöhnte können wir das Geschenk der Taufe neu
zum Leuchten bringen, können wir glaubwürdige
Boten der Liebe Christi sein. Mit den Worten des Apostels
bitte ich deshalb: "Laßt
euch mit Gott versöhnen!"8
- Das dritte Hoffnungszeichen werden wir nur dann neu
entdecken, wenn wir es vom Grauschleier unseres
Gewohnheitschristentums befreien: die Eucharistie. Im
eucharistischen Mahl ist uns auf einmalige Weise
Gemeinschaft mit Jesus Christus und untereinander
geschenkt. Am Gründonnerstag feiern wir das
Gedächtnis an das Abendmahl, das Jesus vor Seinem
Leiden mit Seinen Jüngern gehalten hat. Bitten wir
darum, daß wir in der Eucharistie wieder neu das
Hoffnungszeichen für unsere Kirche und unsere Welt
entdecken. Jesus Christus selbst gibt sich in unsere
Hand. Möge in diesen Tagen niemand unter uns sein,
der gleichgültig, aus Gewohnheit oder weil es alle
tun, die Hand ausstreckt nach dem eucharistischen
Brot!
(Menschen der Hoffnung)
Die Kirche selbst ist nach den Worten des II.
Vatikanischen Konzils "gleichsam das Sakrament, das
heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste
Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen
Menschheit".9 Vielleicht klingt das manchem zu
theologisch und zu wenig neu. Wie aktuell diese Aussage
aber ist, können wir am Beispiel von Menschen
ablesen, die Hoffnungszeichen für unsere Zeit
sind.
Unter den Namen, die vor kurzem buchstäblich in
aller Munde waren, ist erstaunlicherweise der einer
katholischen Ordensfrau: Mutter Teresa. Diese
unscheinbare kleine Frau im weißen Sari vermochte
die Herzen vieler zu bewegen. Wir sollten den
öffentlichen Überschwang von Emotionen nicht
überbewerten, zumal viele der Begeisterten sich die
großen Anliegen von Mutter Teresa nicht zu eigen
machen wollen; ich erinnere nur an ihren
leidenschaftlichen Einsatz für das Leben jedes
einzelnen ungeborenen Kindes. Manchmal ist ihr auch
vorgehalten worden, sie habe zu wenig für die
Änderung der politischen Verhältnisse getan.
Und doch ist Mutter Teresa für Christen wie für
Nichtchristen gleichermaßen zum Hoffnungszeichen
geworden, letztlich wohl deshalb, weil sie nicht für
sich selber lebte, sondern für die leidenden
Menschen. Und als Christen dürfen wir ergänzen:
für Gott, dessen Antlitz sie in jedem Seiner
leidenden Kinder erkannte.
Die Kraft zu ihrem Dienst, ihre Freude und ruhige
Gelassenheit schöpfte sie - wie ihre Mitschwestern
und so viele Ordensfrauen anderer Gemeinschaften - nicht
aus der Sicherheit eines gediegenen Lebensstandards, auch
nicht aus öffentlicher Anerkennung, sondern aus der
täglichen Feier der Eucharistie in der Einheit und
Gemeinschaft mit der Kirche, aus der innigen Begegnung
mit Jesus Christus.
Sogar noch die Bewunderung für diese Frau hat etwas
von einem Hoffnungszeichen: Eine Welt, in der solche
Bewunderung möglich ist, kann nicht so egoistisch,
so kaltherzig, kann nicht so "gottfern" sein, wie ihr
nachgesagt wird und wie gerade wir Christen manchmal
befürchten.
Wir haben also keinen Grund, Resignation und
Trübsinn zu pflegen. Denn überall da, wo
Christen diese lähmenden Mechanismen
überwinden, werden sie zum Hoffnungszeichen für
andere. Gilt nicht auch uns, was der enttäuschte
Gottsucher Nietzsche einmal so ausdrückte:
"Erlöster müßten mir seine (Christi)
Jünger aussehen!"?
Schauen wir uns nur um - in der eigenen Gemeinde, aber
auch in Ordenskonventen und in vielen christlichen
Gemeinschaften. Dort begegnen sie uns doch:
- die jungen Menschen, die nach Gott fragen, die den Sinn
ihres Lebens nicht in bequemer Bürgerlichkeit
suchen;
- die Familienmütter und -väter, die entgegen
der Rede vom "Auslaufmodell" Familie mit ihrem Leben, mit
ihrer Liebe und ihrer Fürsorge lebendige Zeugen der
Liebe Gottes sind;
- die arbeitslosen Frauen und Männer, die ihre
unfreiwillig gewonnene Zeit nicht für sich selbst
behalten, sondern bereitwillig helfen, wo sie gebraucht
werden.
Ich bin sicher: Wenn wir die Augen offenhalten, brauchen
wir nicht lange nach diesen lebendigen Hoffnungszeichen
zu suchen. Auch wird niemand von uns lange nach
Gelegenheiten suchen müssen, aus dem Geist
christlicher Liebe selbst zum Zeichen der Hoffnung
für andere zu werden.
Liebe Schwestern und Brüder, für dieses Jahr
1998 habe ich eingeladen, das Diözesane
Pastoralforum zu beginnen. Es könnte eine
Möglichkeit bieten zum Gespräch darüber,
wie wir als Kirche und wie jeder einzelne katholische
Christ in unserem Erzbistum unseren Glauben so leben
können, daß wir zum Licht werden für alle,
die ohne Hoffnung sind. Gegen manche Prognose möchte
ich darauf vertrauen, daß nicht kleine, kleinliche
Geister unser Vorhaben zu bestimmen suchen. Gottes Geist
allein kann Hoffnung schenken, die den Tag
überdauert, die uns trägt auch in unseren
Sorgen und Ängsten, die sogar in Leid und Tod
standhält. Dieser Heilige Geist ist uns geschenkt.
An uns ist es, Seine Zeichen zu entdecken.
Dazu segne Euch der dreifaltige Gott: der Vater, der Sohn
und der Heilige Geist.
Berlin, am Aschermittwoch 1998
Euer Erzbischof
Georg Kardinal Sterzinsky
(Ausgabe Nr. 9 / 1.3.98)
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