Von Bayern auf die Insel Usedom

Am Ende der Welt, in Kamminke, liegt die größte Kriegsopfergedenkstätte Deutschlands. Auf dem Golm wurden 23.000 Frauen, Kinder, Greise und soldaten beerdigt, die bei dem Bombenangriff vom März 1945 auf Swinemünde ihr Leben verloren haben 

Heringsdorf/Kamminke - „Mein Gott, was ist das nur für ein Sommer?“ klagt die alte Dame aus Bad Godesberg in einem Strandkorb an der Küste von Heringsdorf. Im dicken Pullover sitzt sie hier seit einer knappen halben Stunde und sieht den fünf Wagemutigen zu, die sich trotz der kühlen Witterung auf eine riesige Gummibanane setzen und dann, von einem Motorboot gezogen, über die 15 Grad kalte Ostsee jagen. 
In der Kurverwaltung des mondänen Seebades Heringsdorf herrscht Hochbetrieb. „Vermitteln Sie auch Zimmer?“ fragt ein Berliner mittleren Alters. „Wenn ich auch nur eines hätte, würde ich es gerne vermitteln“, lautet die Antwort der Angestellten hinter dem Tresen. Jedes Zimmer, so scheint es, auf der Insel Usedom ist ausgebucht. Auf der Strecke zwischen Anklam und Zinnowitz haben die Vermieter von Ferienwohnungen, Appartments und Gästezimmern durchweg das Schild „belegt“ rausgehängt. Blech an Blech schiebt sich die Autolawine die Bundesstraße entlang, Wohnmobile und Besitzer von Wohnwagen haben es jetzt gut. Auf den Zeltplätzen finden sie noch diesen oder jenen Stellplatz. Auch eine Gruppe Pfadfinder aus Bayern wandert lachend am Autostau entlang. Noch drei Kilometer, so steht es auf einem Wegweiser, dann geht es rechts auf den Campingplatz. Die Mädchen und Jungen haben die Rucksäcke geschultert. Schlafsäcke und Isomatte hängen unten drann. Für kurzentschlossene Usedom-Besucher, die ein Zimmer suchen, findet sich nicht mal ein Plätzchen im Hühnerstall. Sie müssen ausweichen auf Privatzimmer, kleine Pensionen oder Hotels vor dem Eiland. Etwa in Anklam oder im Raum Wolgast. Oder man kennt den Pfarrer von Stella Maris in Heringsdorf. Eine Frau mit zwei Kindern hat hier im Gemeinderaum eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. „Ihr könnt kommen“, lädt Langner seine Freunde ein. „Irgendein Plätzchen wird sich schon finden.“ An seiner Kirche flattert ein weißes Transparent mit der Aufschrift: „Gottes Geist weht überall“. 
Der eher durchwachsene Sommer hält die Gäste aus Sachsen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Berlin, Sachsen-Anhalt, Bayern oder Nordrhein-Westfalen nicht ab, die herrliche Landschaft der Insel Usedom zu genießen. Da trägt so mancher auch gelassen den Streß des zähflüssigen Verkehrs. Regine und Bernhard Blachner sind aus einem Dorf in der Nähe von München auf die Insel gekommen. „Der Fremdenverkehrsverband von Usedom macht bei uns unten gute Werbung“, sagt Bernhard Blachner. Und seine Frau fügt hinzu: „Wir haben uns schon im Frühjahr entschlossen, in Heringsdorf unseren Urlaub zu verleben“. Da die Sonne heute mal wieder nicht scheine, hätten sich die Eheleute entschlossen, einen der größten Kriegsopferfriedhöfe Deutschlands zu besuchen. Inmitten der ruhigen Natur des Golms, der mit 59 Metern höchsten Erhebung der Insel Usedom, haben 23.000 Frauen, Kinder, Greise und Soldaten ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die enorme Zahl entspricht fast der gesamten heute auf der Insel lebenden Bevölkerung. 
Ein fünf Meter hohes, schlichtes Holzkreuz markiert den Eingang zur Gedenkstätte Golm. Schon von weitem mahnt es zur Versöhnung über Gräber und Grenzen hinweg. Ein von Eichen, Kiefern und uralten Buchen gesäumter Hohlweg führt hinauf zum Friedhof. Er ist eingebettet in das Naturschutzgebiet beim Ort Kamminke. Hier ist die Welt buchstäblich zu Ende. Wer den Aussichtspunkt erreicht, blickt auf das Panorama von Swinemünde, sieht den Hafen, die Steilküste der heute polnischen Schwesterinsel Wollin und den Grenzverlauf zu Polen. Die Außengrenze der Europäischen Union wird hier, unmittelbar am Fuße des Golm, von einem schmalen Torfgraben gebildet. Hinter dem Rinnsal ziehen sich die Schollen polnischer Kleingärtner bis hinauf nach Swinemünde. Viele Generationen lang war der Golm das Naherholungsgebiet der Swinemünder Bürger. 1721 erwarb Preußen die Inseln Usedom und Wollin von den Schweden. Hier oben auf dem Golm gab es bis hinein ins 20. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugslokal, „Onkel Thoms Hütte“, von dem heute nicht einmal Reste zu sehen sind. Einige Betonpfeiler ragen noch in die Luft, doch zeugen sie von militärischen Anlagen, die von den Nazis errichtet und genutzt wurden. Die Eisenbahnlinie Swinemünde - Berlin führte direkt am Fuße des Golms. Hier soll es einmal eine Burg gegeben haben. Die sage berichtet von einer häßlichen Golmprinzessin, die das Heiratsangebot eines ebenso häßlichen Freiers ablehnte. Daraufhin verwandelte der Freier die Burg samt ihren Reichtümern in den Golmberg. Ausgrabungen zeugen davon, daß das Gebiet bereits in der Bronzezeit besiedelt gewesen sein dürfte. Noch heute ist der Burgwall von einst sichtbar, der von der strategischen Bedeutung des Golms zeugt. Von hier wurden die Odermündung und die wichtigen Handelsstraßen gesichert. 
Heute liegt auf dem Golm eine aus vier Teilen bestehende Friedhofsanlage. Am Ende des Hohlweges stößt der Besucher auf eine große Bronzetafel mit den Namen der namentlich bekannten Opfer in der Swinemünder Zivilbevölkerung sowie zahlreicher Flüchtlinge aus Westpreußen, Ostpreußen und Hinterpommern, die den schweren Bombenangriff auf die strategisch wichtige Hafenstadt Swinemünde vom 12. 3. 1945 mit ihrem Leben bezahlen mußten. Ursula Adamski, Käte Bilski, Karsten Kaufmann, Stanislaus Pakula, Ernst Ruge, Erika Venohr, Martha Weber, Emil Stich und Hedwig Zilian sollen an dieser Stelle stellvertretend für die vielen Opfer genannt sein. 58 Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges fanden Tausende Swinwmünder Frauen, Kinder und Greise den Tod. Schlichte, braune Holz- und weiße Granitkreuze, die landschaftsarchitektonisch gekonnt in die Natur eingefügt sind, markieren die Totenfelder. „Ich schäme mich nicht meiner Tränen“, schrieb ein Besucher in das Gästebuch der Gedenkstätte für die Kriegstoten. Und erbringt damit zutiefst menschlich den Schauer zum Ausdruck, der den Betrachter beim Anblick der Totenfelder überfaährt. Die Stille verleiht dem unendlich scheinenden Gräberfeld ein feierliches Gepräge. Wieviele Tränen müssen Frauen, Mütter, Kinder und Greise um die Toten vergossen haben? 
Der Weg führt vorbei an der Steinplastik einer trauernden und frierenden Frau im Soldatenmantel, die in den Jahren 1953/53 von dem Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien geschaffen wurde. Damals verhinderten SED-Bürokraten ihre Aufstellung, da die künstlerische Aussage der Plastik ihrer Meinung nach nicht auf der „Parteilinie“ lag. Auch verließ der Künstler die DDR und wurde in den Stasi-Akten unter „republikflüchtig“ geführt. Heute steht die frierende Frau am Aufgang zu einem Rundbau aus Beton, der 1968 vom Rostocker Bildhauer Wolfgang Eckard geschaffen wurde. Der mühsame Aufstieg zu dem Rondell soll Entbehrungen und Unmenschlichkeit von Krieg und Gewalt versinnbildlichen. Der grob gepflasterte Innenhof, in dessen Zentrum eine Bronzeplatte mit einem Kranz ruht, bringt zum Ausdruck, daß ein müheloses Vorübergehen an den Opfern nicht möglich ist. „Daß nie eine mutter mehr ihren Sohn beweint“, steht auf einer Seite zu lesen. Diese Worte Johannes R. Bechers fordern die Besucher der Anlage auf, Kriege in Zukunft zu verhindern. 
Neben den namentlich bekannten Opfern in der Zivilbevölkerung von Swinemünde ruhen auf dem Golm auch mehrere Tausend unbekannte Flüchtlinge und deutsche Soldaten. Eine Bronzetafel nennt die Namen von Opfern, die erst spät nach der Beisetzung namentlich bekannt wurden. Auch gibt es hier den bereits 1943 angelegten Marinefriedhof, der die Überreste von im Swinemünder Lazarett gestorbenen Seeleuten und die Toten von deutschen Kriegsschiffen, darunter Besatzungsmitglieder des U-854, birgt. Auf dem so bezeichneten „Soldatenfriedhof“ fanden ebenfalls seit 1943 Beisetzungen statt. Hier liegen die Toten von Fronttransporten aus dem Osten ebenso wie Flieger vom Garzer Fliegerhorst sowie namentlich bekannte Soldaten, die während des Bombenangriffs auf Swinemünde starben. 
Über sie wurde am 12. März 1945 aus 671 amerikanischen Flugzeugen eine Bombenlast von 1609 Tonnen ausgeklinkt. In kurzer Zeit verwandelte sich Swinemünde damals in ein brennendes Inferno. Augenzeugen sprachen später vom „Dresden des Nordens“. Wegen der Seuchengefahr und des nicht abreißenden Flüchtlingsstromes aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sowie der immer näher heranrückenden Front mußten die mehr als 23.0000 Toten schnell bestattet werden. Sie wurden auf Pferde- und Lastwagen zum Golm gebracht und hier beigesetzt. 
Um 1950 bemühten sich kirchliche Stellen darum, die bereits stark überwucherten Grabanlagen in einen würdigen Zustand zu bringen. Ein gerade errichtetes, 13 Meter hohes Holzkreuz wurde jedoch von unbekannten Tätern zu nächtlicher Stunde abgesägt. Das Zeichen des Kreuzes war den SED-Genossen damals ein Dorn im Auge. Alle Aktivitäten, die seitens der Kirche zum Erhalt und zur Pflege der Friedhofsanlage unternommen wurden, stießen bis weit hinein in die 50er Jahre auf staatliche Ablehnung. 
Im März 1992 haben Kamminker und ehemalige Swinemünder die „Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm e.V.“ ins Leben gerufen. Nach eigenen Angaben ist es Ziel des Vereins, den Golmfriedhof als eine Stätte würdigen Gedenkens und Erinnerns zu erhalten. Jeweils am 12. März und am Volkstrauertag lädt die Gemeinschaft zu Gedenkfeiern auf dem Golm ein. Für die Überlassung von Zeitdokumenten, Erlebnisberichten sowie für Hinweise und Anregungen ist der Verein dankbar. Informationen gibt es unter folgender Anschrift: Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm, Ingeborg Simon, Hauptstraße 39, 17419 Zirchow. Tel.: 038376/20287. 

Thomas Steierhoffer  
 
Nr. 33/34 98 vom 16. und 23. August 1998