Kritiker weinen nicht!
Die Entscheidung der ökumenischen Jury bei der 48. Berlinale 
 Kritiker weinen nicht, denn Tränen trüben den kritischen Blick. Am Tag nach der Entscheidung der Berlinale-Jury waren viele  Kritiker-Stimmen zu hören, weil mit CENTRAL DO BRASIL (Central Station) von Walter Salles der Goldene Bär an einen Film ging, aus dem viele noch mit dem Taschentuch in der Hand aus dem Kino kamen. Der Preisträgerfilm weist in diesem Jahr verschiedene Besonderheiten auf: zum ersten Mal seit vielen Jahren ging der Goldene Bär nach Südamerika, und: die Festivaljury ist sich mit der ökumenischen Jury einig, sie schämten sich ihrer Tränen nicht über die Geschichte von Dora und Josué. Dora verdient  sich ihren Lebensunterhalt als Briefeschreiberin. Ihr Büro ist in der Bahnhofshalle von Rio de Janeiro. Viele Briefe, die sie für andere schreibt, erreichen nie ihren Adressaten, denn Dora entscheidet zynisch und selbstgerecht, welche sie wirklich abschickt. Ihre Haltung ändert sich erst, als sie Verantwortung übernimmt für den neunjährigen Halbwaisen Josué, der seinen Vater sucht. „In der zunächst nur widerwillig übernommenen Verantwortung (...) findet  die alterne Dora schließlich neuen Lebensmut. Der Regisseur erzählt ebenso geradlinig wie sensibel eine Geschichte über die Suche zweier Menschen nach Identität“, begründet die 
 ökumeniche Jury ihre Entscheidung. Besonders beeindruckt zeigte sie sich auch von dem nicaraguanischen Kurzfilm, 
 CINEMA ALCAZAR von Florence Jaugey, der als Vorfilm zu CENTRAL DO BRASIL lief, und zeichnete ihn mit einem Spezialpreis aus. Der nur 10-minütige Dokumentarfilm zeigt ein Kino, das für viele Menschen zum Zufluchtsort nach einem Erdbeben wurde. Die Leute erzählen, daß es sich um ein Kino handelt, berichtet Rosa, aber sie hat Zweifel: Sie lebt schon seit Jahren in diesem Raum ohne jedes Tageslicht und hat noch keinen einzigen Film gesehen. Aus der 
 Begründung der Jury: „Ein verlassenes Kino (...) wird zum Symbol  für die Verlassenheit des nicaraguanischen Volkes. Der Film, der mit geringsten Mitteln realisiert wurde, zeugt davon, wie das Leben selbst unter schwierigsten Bedingungen weitergeht.“ 
 Die ökumenische Jury beschränkt sich nicht auf den Wettbewerb. Zwei mit jeweils  5.000 Mark dotierten Hauptpreise wurden an einen Film aus dem Panorama und an einen aus dem Internationalen Forum des jungen Films vergeben. 
Aus dem 13. Internationalen Panorama ging der Hauptpreis an die US-amerikanische Produktion SUE von Amos Kollek „für sein eindrucksvolles Porträt einer arbeitslosen New Yorkerin, die sich zunehmend von ihrer Umwelt 
 entfremdet und schließlich an ihrer Einsamkeit zugrunde geht. Der Film schildert ohne melodramatische Effekthascherei die verzweifelte Suche nach Liebe und Nähe in einer Gesellschaft der Vereinzelung“, so die Begründung. „Ich kenne solche Menschen, die sehr viel Liebe brauchen“, ergänzt Angelika Obert, die diesjährige Jury-Präsidentin, „ich weiß aber auch, wie schwierig solche Menschen sind“. Sue ist nicht verrückt, sie ist nur ein kleines bißchen labiler als andere und ein bißchen trauriger. Der Verlust ihres Arbeitsplatzes, zieht ihr förmlich den Boden weg unter den  Füßen. Ihre 
 Reaktionen werden immer hektischer und verzweifelter: sie sucht Halt rutscht aber immer mehr ab und kann sich nicht mehr fangen. Am schwersten fiel die Entscheidung für einen Forumfilm, wie Angelika Obert  gesteht. In die engere Wahl waren mehrere interessante Dokumentarfilme gekommen. Schließlich konnte man sich aber einigen auf WANG HSIANG. (Homesick Eyes) von Hsu Hsiao-ming. Der Hintergrund für diese Dokumentation ist die Entscheidung der taiwanesichen Regierung von 1993, den heimischen Arbeitsmarkt für Ausländer zu öffnen, was zu einem Zustrom von Arbeitern vor allem aus Thailand und von den Philippinen führt. Hsu Hsiao- ming hat vier dieser Gastarbeiter ausgewählt und begleitet sie durch ihren Alltag: Ein junger Mann, der aus Liebe seiner Verlobten gefolgt ist, muß so hart arbeiten, daß sie sich doch nicht sehen können. Ein Familienvater hat seine Familie in Thailand verlassen, um seinen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Eine junge Frau muß ihren Traum, in Taiwan reich zu werden, aufgeben und wünscht sich nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Der Film gibt dem Problem der ökonomischen Migration Gesichter, urteilt die Jury: „Wir begegnen Menschen (und) werden Zeugen ihrer Einsamkeit und ihrer Sehnsucht nach Zuhause. Es wird aber auch deutlich, aus welchen Quellen ihr Lebensmut kommt“. Denn auch dem spürt der Regisseur nach, dem „wirklich sehr kleinen Glück“, wie Frau Obert es nennt, das die Menschen am Leben erhält. Es ist neben der filmischen Qualität des Films sicherlich kein Zufall, daß sich eine Jury in Berlin mit seinen vielen Baustellen und den vielen dort beschäftigten ausländischen Arbeitern ausgerechnet für diesen Film entschied. 
Bis zuletzt war die Jury mit den Entscheidungen und der Formulierung der Begründung beschäftigt, kaum einer, der das Gähnen unterdrücken konnte, denn die Jury hatte eineinhalb anstrengende Wochen hinter sich. Jeden Morgen um 
 acht Uhr - nach dem Frühstück! - traf man sich zur Besprechung, um dann anschließend in die ersten Vorführungen zu gehen, die letzten liefen ab 23.30 Uhr. Trotz aller Erschöpfung ist Angelika Oberts Urteil positiv: „Es hat wieder Spaß gemacht!“ Auch diese Juryentscheidung fiel einstimmig. 
Stefan Förner  
 (Ausgabe Nr. 9 / 1.3.98)