...und auch
ein letzter Gruß von Honecker
Kranzschleifen,
Totenmasken, ungewöhnliche Meßkelche - im
Diözesanarchiv Berlin gibt es mehr als verstaubte
Akten
Berlin - Das Diözesanarchiv Berlin! Was
stellt sich der moderne Mensch darunter vor, wenn er
diese Bezeichnung das erste Mal hört? Archive gelten
als verstaubt und langweilig. Doch dann beginnen die
Assoziationen: Vatikan, Verborgenes, Verbotenes,
Geheimes, hochbrisantes Material, das der
Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Die
katholische Kirche ist dafür
berühmt-berüchtigt, ein Kirchenarchiv ist kein
normales Archiv!
Der Eingang zum Diözesanarchiv ist nicht leicht zu
finden. Er liegt versteckt, überwuchert von
Kletterpflanzen aller Art. Ein Messingschild fordert zum
Klingeln auf. Die nette Frauenstimme verwirrt, so richtig
introvertiert, Geheimes verbergend klingt sie nicht.
Bunte Pfeile leiten zum Ort des Geschehens, von wo
Menschenstimmen im lebhaften Gespräch deutlich zu
vernehmen sind. Ab und zu ertönt ein Lachen. An der
Garderobe steht eine freundliche Dame. Sie nimmt die
Garderobe entgegen und bittet um Eintrag in das
Gästebuch, das auf einem Stehpult liegt. Heute ist
Tag der offenen Tür.
Normalerweise ist das Archiv dienstags und donnerstags
mit Voranmeldung zugänglich, für jeden
Interessierten.
Der Archivleiter Dr. Gotthard Klein, der bisher nicht in
Erscheinung getreten ist, beginnt mit seiner
Führung. Der Tresor, die Geheimnisse, die einmalig
zu besichtigen sind! In einem kleinen Raum wird Literatur
vorgestellt, die sich mit der Kirchengeschichte in den
beiden totalitären Epochen der deutschen Geschichte
beschäftigt, dem Dritten Reich
und der DDR. Das interessiert eigentlich nicht, weiß
doch jeder Deutsche mit etwas Bildung, was er von der
katholischen Kirche in diesen Zusammenhängen zu
halten hat! Das ist stadtein und stadtaus bekannt, fast
jeden Tag ist etwas darüber in der Zeitung zu lesen.
Moment, hier stimmt etwas nicht. Was sagt der Leiter des
Archivs, der im übrigen einen lebhaften Eindruck
macht und so gar nicht von vorgestern zu stammen scheint?
Er steckt tief in der Materie und weiß Bescheid. Das
ist aber nicht alles, er scheint auch noch begeistert zu
sein von dem, was er erzählt.
Der Raum wird gewechselt. Viele Gegenstände liegen
verstreut auf einem Tisch. Jetzt wird es interessant,
Fotos, Urkunden! Was mag sich wohl hinter diesen
verbergen? Gotthard Klein beginnt zu sprechen. Es
entstehen Geschichten, die sich aus den Mosaiksteinen
seines Berichtes zusammensetzen: Ich freue
mich, das Sie den Weg ins Diözesanarchiv Berlin
gefunden haben und viele junge Menschen unter Ihnen sind.
Dies ist ein positives Zeichen, denn es zeigt, daß
die Vergangenheit immer wieder bewußt entdeckt wird
und auf diesem Wege lebendig bleibt! Ich mache mit Ihrer
Gruppe gerne Streifzüge durch die kirchliche
Vergangenheit Berlins. Eine Auswahl von Schriften und
Gegenständen soll Ihnen unsere Geschichte im
Dritten Reich und der DDR lebendig
machen.
Dokumente, die vordergründig keine Bedeutung
für den heutigen Menschen besitzen, erzählen -
in Zusammenhang gebracht - Geschichten und decken
Zusammenhänge auf. Auf einem Foto ist Joseph
Goebbels zu sehen, der 1943 die zerstörte
Hedwigskathedrale besichtigte. Man bat ihn, in der Ruine
der Kathedrale eine Kapelle errichten oder die
Singakademie für Gottesdienste nutzen zu
dürfen. In seinem Tagebuch notierte er nach einer
Behandlung im St.Hedwigskrankenhaus, daß man die
Nonnen ruhig im Krankendienst belassen
könne, weil sie hier keinen Schaden
stiften. Hier wird die Haltung Goebbels
gegenüber den Katholiken deutlich, deren Kirche er
einerseits auslöschen, andererseits jedoch zu seinen
eigenen Gunsten nutzen wollte. Diesen launischen
Machthabern gegenüber mußte sich die Kirche
behaupten um die Gläubigen geistlich betreuen und
schützen zu können. Kaum jemand ist
sich dieser zwiespältigen Situation heute
bewußt, wenn über die katholische Kirche im
Dritten Reich diskutiert wird. Da
sich nach dem Krieg im Laufe der Jahre ein eher negatives
Bild über das Verhalten der Kirche im
Dritten Reich durchgesetzt hat,
möchte ich Sie auf diesen Punkt hinweisen,
betont Klein.
Der Archivleiter nimmt einen anderen Gegenstand,
vergleichbar mit dem Behälter eines kleinen
Teelichts, zur Hand. Hier ein
Kaloderma-Rasierseifendöschen, Es berührt den
Betrachter, wenn er erfährt, daß es einem
Priester, Probst Ernst Daniel, als Meßkelch im
Gestapogefängis diente. Ein
Gefängniswärter war es, der den Meßwein
schmuggelte. Es ist erschütternd, daß Menschen
trotz widerwärtigster Umstände nicht auf die
Messe verzichten und dafür ihr Leben in Gefahr
bringen! Dabei hatte Propst Daniel noch Glück, im
Gegensatz zu manch anderem Priester - so verlor etwa
Bernhard Lichtenberg sein Leben aufgrund
öffentlicher Gebete für die Juden in der
St.-Hedwigskathedrale. Propst Daniel erfuhr dagegen wohl
durch Katholiken, daß durch Meldung zur
Strafkompanie in die Tschechei die größten
Chancen beständen, nicht zu Tode zu kommen. Er
meldete sich und überlebte.
Mit einem historischen Zeitsprung fährt der
Archivleiter fort: Hier sehen sie die
Totenmaske Kardinal Bengschs und eine Kranzschleife des
ehemaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR, Honecker.
Beide Gegenstände erzählen aus anderen Zeiten
und den komplizierten Umständen, die mit ihnen
verbunden waren. Als Kardinal Bengsch 1979 starb,
mußte sein Leichnam zum Abschied in den Westen
Berlins verbracht werden, bevor er am Tag danach zum
Requiem wieder in den Osten der Stadt kam, um dort
beigesetzt zu werden. Honecker schenkte einen
Trauerkranz, mit dem er seine Achtung gegenüber
Bengsch als einem Kämpfer gegen den Faschismus
ausdrücken wollte. Ein kommunistisches
Staatsoberhaupt ehrt einen Bischof der katholischen
Kirche, die er für seinen sozialistischen Staat
instrumentalisieren wollte, wogegen sich Kardinal Bengsch
immer energisch verwahrte.
Gebannt hören die Besucher zu. Offensichtlich ist es
für viele das erste Mal, derartiges über die
Kirche zu hören. Man glaubt diesem Archivar, der
offensichtlich Fachmann auf seinem Gebiet ist. Das zeigt
er schon dadurch, daß er auch auf kritische Fragen
und Einwände antwortet. Bedauern regt sich, als der
Archivar berichtet, daß viel Schriftgut während
des zweiten Weltkrieges vernichtet wurde. Wieviele
interessante Informationen hätten bewahrt und
vermittelt werden können! Um so erfreulicher ist die
Nachricht, daß nach dem Krieg und auch während
der Teilung Berlins sowohl in Ost- als auch in Westteil
der Stadt weitergesammelt und archiviert wurde. Nach der
Vereinigung wurden beide Archive im März 1995
zusammengeführt und was entstand, war das
Diözesanarchiv Berlin in der heutigen Form und
Funktion.
Eine neue Perspektive hat sich aufgetan. Alle haben
vergessen, daß ein Archiv in ihren Augen einmal
langweilig und ein kirchliches darüber hinaus
verschlossen und geheim war. Zum anderen haben viele auch
ihre Meinung über das Verhalten der Kirche in den
beiden totalitären Epochen Deutschlands
geändert. Zumindest ist allen bewußt geworden,
wie wichtig ein Archiv zur Bewahrung des menschlichen
Wissens ist, um Verfälschungen und dem Vergessen
vorzubeugen.
Ester Brown
Nr. 48/98 vom 29. November 1998
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