Neue Räume der
Freiheit
Von den 800.000 Einwohnern Amsterdams
ist nur noch jeder Zehnte Mitglied einer Kirchengemeinde.
Vor 20 Jahren waren es noch 70 Prozent. Hier stellen sich
die Menschen ehrlicher als anderswo der
„Säkularisierung“ des eigenen
Bewußtseins. Diese Entwicklung macht auch vor der
Metropole Berlin nicht Halt. Wie die Kirche in Holland
auf die rasante Entwicklung reagiert, wie sie neue Formen
von Gemeinde sucht und unprätentiöse Wege
beschreitet, könnte auch interessant sein für
die Kirche von Berlin.
Die Posthorn-Kirche in der Nähe des Hauptbahnhofs
überragt mit ihren neugotischen Türmen alle
kleinen Grachtenhäuser in der weiten Nachbarschaft.
Wenn man näher herantritt, wird man einen Hinweis
auf die Gottesdienste vergeblich suchen. Die Kirche wurde
vor 10 Jahren verkauft und in ein mehrstöckiges
Atelier eines Architektenbüros umgewandelt. Weil die
Kirche unter Denkmalschutz steht, wurde an der
Innenausstattung nichts verändert: So arbeiten die
20 Architekten heute im Schatten einer Darstellung des
heiligen Josefs, und von ihren Schreibtischen blicken sie
herab auf Altar und Kanzel. Die Gemeinde war so klein
geworden, daß sie für das Gotteshaus nicht mehr
sorgen konnte: Wie 40 andere Gemeinden verkaufte sie die
Kirche; mit dem Geld konnte man in den
bevölkerungsreichen Außenbezirken der
niederländischen Hauptstadt Gemeindezentren
errichten. In der Innenstadt Amsterdams wird der
tiefgreifende religiöse Umbruch sichtbar: In der
Rozengracht wurde eine katholische Kirche in eine Moschee
umgewandelt, in der Prinsengracht verkaufte die
Reformierte Gemeinde ihre viel zu große Kirche an
das städtische Bauamt; es gestaltete die Kirche in
ein Bürozentrum um; zum Gottesdienst am Sonntag
mieten die Protestanten jetzt einen kleinen Saal ihrer
ehemaligen Kirche. Sie haben den Kopf nun frei für
die Gemeindearbeit und müssen nicht mehr
ständig über das fehlende Geld nachdenken.
Die meisten Amsterdamer Christen sind froh, daß sie
jetzt über Räume und Gebäude
verfügen, die der tatsächlichen Größe
der Gemeinde entsprechen. Von den 800.000 Einwohnern der
niederländischen Hauptstadt ist nur noch jeder
Zehnte Mitglied einer Kirchengemeinde. Vor 20 Jahren
waren es noch 70 Prozent. Über den massiven Bruch in
der religiösen Tradition Hollands ist viel
geschrieben worden. Deutlich ist allen Beobachtern,
daß sich die Menschen hier ehrlicher als anderswo
der „Säkularisierung“ des eigenen
Bewußtseins stellen; viele aber verlassen auch die
Kirchen, weil sie mit der „Institution“, dem
„Amt“, ihre großen Probleme haben: So
nennt man sich jetzt „unkirchlich“, als
Atheist hingegen sehen sich nur die wenigsten. Religion
und Glaube interessiert die meisten Menschen nach wie
vor, nur eben anders als vorher, vielleicht nur noch
punktueller: Man stellt sich sein eigenes
„religiöses Menü“ selbst zusammen,
ohne dabei einer bestimmten Kirchen-Tradition
verpflichtet zu sein.
Die sehr klein gewordene Kirche in Amsterdam hat sich
angesichts dieser Entwicklung nicht auf sich selbst
zurückgezogen: Sie ist alles andere als eine kleine
Herde, die sich im Ghetto der Minderheit wohlfühlt:
Neue Initiativen
gibt es allerorten: Die Franziskaner haben vor kurzem das
Meditationszentrum „la Verna“ eröffnet.
Dort können sich auch Menschen über den
christlichen Glauben informieren, die sich bisher eher in
New-Age-Gruppen wohlfühlten.
Insgesamt boomt diese neureligiöse Bewegung immer
noch. 55 New- Age-Zentren gibt es in der Stadt.
Inzwischen hat der Ökumenische Stadt-Kirchenrat eine
eigene Beauftragte für die Gespräche mit diesen
Gruppen angestellt: Die
Jesuiten suchen in ihrem Ignatius-Haus das Gespräch
mit den Kirchendistanzierten, sie bieten eine alternative
katholische Akademie, Diskussionen in kleinem Kreis,
Konzerte zur Mittagszeit, Gottesdienste für
Menschen, die wieder neu den Glauben entdecken wollen.
Mitten im mittelalterlichen Beginen-Hof gibt es die
ökumenische Beratungsstelle „Offene
Tür“, sie wurde vor 55 Jahren gegründet.
Jetzt finden dort auch Bibelgespräche und
theologische Gesprächsrunden statt. Wer die alte
römische Liturgie bevorzugt, kann an den
Gottesdiensten in der Jesuitenkirche am Singel
teilnehmen. 500 Christen treffen sich sonntags um 11 Uhr
in der ökumenischen Dominikusgemeinde: Pastoren der
reformierten wie auch der katholischen Kirche leiten
gemeinsam die Gottesdienste. Die Dominikus-Gemeinde ist
eine selbständige, freie Gemeinde. Der berühmte
und auch in Deutschland geschätzte Dichter (und
ehemalige Jesuitenpater) und Theologe Huub Oosterhuis hat
schon vor 18 Jahren seine eigene Gemeinde gegründet;
in der „Studentenecclesia“ treffen sich
sonntags über 100 Christen, um ausführliche und
vor allem zeitgemäße Bibelinterpretationen zu
hören. Die Lieder von Huub Oosterhuis werden in
allen katholischen Kirchen an jedem Sonntag gesungen. Das
katholische Stadt-Dekanat Amsterdam hat eine
Broschüre aller katholischen Einrichtungen der Stadt
herausgegeben, selbstverständlich werden auch die
Dominikus-Gemeinde und die Oosterhius-Gemeinde darin
erwähnt. Holländer sind großzügige,
tolerante Menschen!
Für die rund 8.000 drogenabhängigen Menschen
hat der ökumenische Rat schon vor etlichen Jahren
zwei Laientheologen angestellt: Sie feiern an jedem
Sonntag um halb fünf in der schönen gotischen
Magdalenen-Kapelle, mitten im Rot-Licht-Viertel, ihren
Gottesdienst. In jedem Jahr unternehmen die
Drogenabhängigen mit ihrem Pastor eine Wallfahrt
nach Lourdes. Für drogenabhängige Prostituierte
haben Franziskanerinnen eine Caféstube mitten im
„Milieu“
eingerichtet, sie ist von abends um 10 Uhr bis morgens um
8 Uhr durchgehend geöffnet, als ein Ort menschlicher
Nähe und Fürsorge. Augustinerinnen bieten in
der Innenstadt Frauen in Not Unterkunft und Beratung. Das
ökumenische
Bildungszentrum Moses und Aaron Haus organisiert in jedem
Jahr mehrere Veranstaltungen zum Thema AIDS; auch
ökumenische AIDS-Gottesdienste gibt es
regelmäßig seit 15 Jahren, bei denen der
Jesuitenpater Jan van Kilsdonk
predigt; er ist in der ganzen Kirche dafür bekannt,
daß er vor allem homosexuelle Menschen
begleitet.
Die Kirche ist in Amsterdam angesehen, sie wird
geschätzt, wegen ihrer Nähe zu den Menschen:
„Die Menschenfreundlichkeit Gottes sichtbar machen,
ist unser oberster Grundsatz“, sagt Ricus Dullaert,
er ist der katholische Seelsorger für
Drogenabhängige; er wird von seinen Priesterkollegen
Pastor genannt,
obwohl er eigentlich „Laientheologe“ ist. Die
Salesianer kümmern sich jetzt um obdachlose Kinder
und Jugendliche; immer neue Aufgaben gibt es für die
kleinen Gemeinden. Zur Zeit wird die neogotische
Nikolas-Kirche am Hafen restauriert. Die Bereitschaft zu
spenden ist überwältigend; inzwischen hat sich
dort eine kleine Choral-Schola gebildet.
Mönchsgesänge in das hektische Leben der Stadt
bringen, ist diesen Christen wichtig. Im Neubauviertel
Bijlmermeer wurde eine Kirche für acht verschiedene
Konfessionen errichtet; auch Katholiken halten in diesem
multi-religiösen Gotteshaus ihre Messen!
Kürzlich haben sich Vertreter aller in Amsterdam
vertretenen Religionen (erstmalig in Europa!) zu einem
„Amsterdamer Religions Rat“
zusammengeschlossen. Buddhisten und Christen, Juden und
Moslems pflegen das religiöse Gespräch
über alle Grenzen hinweg. Sie suchen gemeinsam nach
einer zeitgemäßen Sprache für das
„Göttliche im Menschen“.
Christian Modehn
(Ausgabe Nr. 18 / 3.5.98)
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