Garantiert:
Unsterblichkeit
Von
Virtuell Viagra bis
Internet-Bestattung
-
Absonderlichen
Angeboten im globalen Netz auf der Spur
Berlin - Bei Klick mit der Mousetaste wird der
Cursor plötzlich riesengroß. Begleitet von
einem erwartungsfröhlich stöhnenden Lachen,
schwillt der Mousezeiger etwa auf seine sechsfache
Größe an. Die Konturen werden schärfer,
dann hat er den Zenit seines plötzlichen Wachstums
erreicht. Nichts regt sich mehr am Computer-Bildschirm.
Wie erstarrt ragt der Pfeil ins Zentrum des Monitors.
Nochmaliges Klicken läßt dem aufgeblasenen Ding
ebenso plötzlich die Luft ab.
Ohhhh... schallt es aus den
Lautsprechern der Anlage. Bald könnte man meinen, in
der synthetische Stimme schwinge etwas wie
schade, schon vorbei mit. Dann
fällt der blinkende Zeilenstandsanzeiger in sich
zusammen und erreicht die Größe, die der Arbeit
angemessen ist.
Virtuell Viagra heißt das
Scherzprogramm, das wie ein sich heimlich aus dem
Internet eingeschlichenes Virus auf so mancher
Rechner-Mattscheibe seit kurzem sein Unwesen treibt. Kaum
liefen die ersten Meldungen über die angeblich so
wirkungsvolle Potenzpille Viagra
über die Ticker der Agenturen, hatten sich auch
schon Computer-Freaks an das Objekt ihrer Begierde
begeben, um das Thema digital aufzuarbeiten.
Nichts ist unmöglich, so scheint es, im Zeitalter
der ungehemmten Datenströme. Einkaufen,
elektronische Briefe schreiben, diskutieren,
live-Übertragungen in Wort und Bild verfolgen, auf
Archive und Datenbanken zugreifen - das sind nur einige
wenige Möglichkeiten, die Internet-Nutzer heute wie
selbstverständlich handhaben. Gibt es auf dem Sektor
der Internet- und Computertechnologie eigentlich noch
Tabus? Wohl kaum, wenn man sich die skandalösen
Vorfälle aus der jüngsten Vergangenheit ins
Gedächtnis zurückruft. Da werden einerseits
schamlos Sexangebote unterbreitet, da wird andererseits
der amerikanische Präsident weltweit
vorgeführt, da wird Menschenhandel organisiert, da
wird rechtes, gar nationalsozialistisches Gedankengut
verbreitet. Alles ist machbar, so hat es zumindest den
Anschein.
Ganz neu auf dem Markt der unbegrenzten
Möglichkeiten ist jetzt die Internet-Bestattung
aufgetaucht. Rührige Geschäftsleute werben mit
Platz auf ihren Großrechnern, den sogenannten
Servern. Der kann zur Einrichtung eines
digitalen Friedhofs genutzt werden.
Gegen Entgelt, versteht sich. Die Preise
bewegen sich von einigen hundert Mark im Jahr bis hin zu
vielen Tausend Mark, erklärt Johann Weber,
der Leiter der Zentralen Friedhofsverwaltung für die
Katholischen Friedhöfe im Erzbistum Berlin. Nach
oben gebe es auch hier keinerlei Preisbegrenzung. Wie
viele andere Dinge auch kommt der virtuelle
Friedhof aus Amerika. Dort gebe es, so Weber,
eine andere Bestattungskultur. Und
die habe mitunter wenig mit dem zu tun, was auf dem
deutschen Bestattungssektor verankert sei. Weber:
Internet-Friedhöfe sind nur sehr schwer in
unser christliches Grundverständnis von Sterben und
Tod einzuordnen. Für ihn liegt die Grenze
zum Vertretbaren in einem klar definierten
Verhältnis zwischen Selbstdarstellung und
Individualität. Wenn es auf den
Internet-Seiten nur noch um postume Selbstdarstellung
geht, lehne ich diese Form ab, unterstreicht
Weber. Schließlich werde das physische Problem der
sterblichen Überreste eines Menschen nicht im
Cyberspace gelöst. Johann Weber sieht einen
deutlichen Zusammenhang zwischen anonymer Bestattung und
Verewigung im Internet. Bei vielen
Internet-Seiten dieser Art handelt es sich eindeutig um
eine Ersatzhandlung, sagt er. Mit einem klaren
Nein antwortet er auf die Frage, ob
die Katholischen Friedhöfe im Erzbistum Berlin
zukünftig auch
Internet-Bestattungen anbieten
werden. Allerdings, so Weber,
habe ich keine Probleme mit der Verbreitung
einer Todesanzeige via Internet.
Zukunftsforscher tragen zunehmend die Frage in die
öffentliche Diskussion: Wie sieht unser
Leben in 20 oder 30 Jahren aus? Dann
könnte es massenhaft Haushaltsroboter geben:
Maschinen, die Staub wischen, die Fenster putzen oder den
Tisch decken. Doch ist das sinnvoll? Wollen die Menschen
das überhaupt? Wer sich in den vergangenen Tagen in
den Strom der Massen eingereiht hat, um den Potsdamer
Platz anzuschauen, hat vielleicht hautnah erlebt, wie die
Zukunft aussehen kann. Stahl, Glas und Beton sind die
Materialien der Postmoderne. Im Herzen Berlins werden sie
zu einem neuen babylonischen Turm zusammengefügt.
Zusammengefügt werden sie zu Altären des Gottes
Geld. Ein riesiger, den Menschen fast erschlagender
Konsum- und Amüsiertempel wächst in der
Berliner Mitte. Hier ist der einzelne nichts, der Umsatz
jedoch alles.
Vor den Ungetümen am Potsdamer Platz drängt
sich geradezu die Frage nach dem Sinn des Lebens heute
und in 20 oder 30 Jahren auf. Der Trend zur
Single-Gesellschaft, darin sind sich die Experten einig,
hält an. Was wird im Alter aus den vielen Menschen,
die keine Kinder, keine Enkel mehr haben? Helfen
Maschinen, Computer oder Roboter angesichts der
ständig steigenden Lebenserwartung - in Deutschland
steigt sie jährlich um etwa drei Monate - aus
Vereinzelung und Vereinsamung heraus?
Technologisch ist heute vieles machbar. Doch ist die
Realisierung des Machbaren immer sinnvoll? Können
Hunderttausende und Millionen Angebote im Internet, die
derzeit in virtuellen Friedhöfen
gipfeln, die existenziellen Fragen des Menschen - Wer bin
ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? - beantworten? Eher
handelt es sich wohl um ein Alarmsignal innerhalb der
selbstsüchtig wuchernden westlichen Zivilisation.
Virtuelle Friedhöfe mögen
als buchstäblich tote Seiten im Internet Bestand
haben solange es Computer und das globale Netz gibt. Doch
was sind sie anderes als ein Hilfeschrei alleingelassener
Individuen, die bedauerlicherweise niemanden haben, der
sich auf den Weg macht und einen duftenden
Blumenstrauß auf ihr wirkliches Grab legt.
Thomas Steierhoffer
Nr. 44/98 vom 1. November 1998
|