Seismograph der
Gesellschaft
Kirche muß in der Welt sein - das ist keine
neue Erkenntnis. Heute aber wird die Umsetzung immer
wichtiger. Viele Menschen fühlen sich im
traditionellen Gemeindeleben nicht mehr zu Hause. Viele
haben große seelische Probleme, manchmal auch mit
der Kirche, oder besser: wie sie Kirche gerade in
Kindheit und Jugend erlebt haben. Dennoch sind sie
nicht zwangsläufig areligiös.
Umsomehr scheint es heute notwendig, überlieferte
Bräuche und Kern des Glaubens auseinanderzuhalten.
Eine Institution, die das seit Jahrzehnten mit Erfolg
versucht, ist die Offene Tür Berlin. Seit mehr als
40 Jahren bietet sie Krisenintervention, psychologische
Beratung und Lebensbegleitung vor einem spirituellen
Hintergrund an.
Berlin - Ann F. ist 43. Ihre beiden Kinder sind
in der Pubertät und strengen sie an. Die Beziehung
mit ihrem Freund ging vor ein paar Monaten in die
Brüche. Freunde, die sie in schwierigen
Augenblicken auffangen, gibt es viel zu wenig.
Früher ist sie öfter in die Kirche gegangen
und war ab und an bei einer Gemeindeveranstaltung. Seit
ihrer Scheidung vor sieben Jahren fühlt sie sich
dort nicht mehr so recht zu Hause. Die meisten in ihrem
Alter sind verheiratet und haben Familie. Da kommt sie
sich zwar nicht ausgestoßen, aber doch wie das
fünfte Rad am Wagen vor. Derzeit hat Anna F. wenig
Freude am Leben. Immer öfter fragt sie sich, was
das alles soll und warum sie eigentlich lebt.
Eigentlich möchte sie dringend mal mit jemanden
wieder richtig reden, mit jemandem, der zuhört und
weiß, wovon sie redet.
Probleme wie diese sind nicht neu. Schon 1963 steht in
der Broschüre zum fünfjährigen Bestehen
der Offenen Tür Berlin (OTB): Es geht
hier um den Menschen - und zwar so, wie er ist:
gehetzt, getrieben, überfordert, akustisch visuell
sensitiv überlastet, reiz-überflutet bis in
die Nacht hinein. Wo findet er Ruhe? Besinnung? (...)
Zeit zum Denken, Zuhören, abwarten, Wachsenlassen?
(...) Geborgenheit? Sicherheit, Befreiung von der
Einsamkeit, in der er sich verstoßen fühlt,
das ist es, was der Mensch von heute sucht - mehr als
früher, weil er weit vielfältiger als
früher angegriffen und bedroht ist. -
Vor diesem Bild der Gesellschaft hatte der Jesuit P.
Gebhardt Graf Stillfried-Rattonitz 1958 angeregt, eine
Institution zu gründen, die gerade den
erwachsenen, den älteren Menschen unserer
Zeit hilft. Ziel war von Anfang an, Menschen
in Not gleich welcher Art unbürokratisch zu
helfen. Ein Raum für Ratsuchende, unabhängig
von Konfession, Religion und Nationalität oder
Bildungsgrad will die Offene Tür bis heute
sein.
Die OTB wurde 1958 von Laien mit der geistlichen
Begleitung von P. Stillfried gegründet.
Träger ist ein unabhängiger Verein, dessen
Geschäftsführer zur Zeit der Rechtsanwalt
Norbert Eckervogt ist. Die Offene Tür finanziert
sich durch Spende und wird auch vom Erzbistum Berlin
unterstützt. Laut Vereinssatzung ist der Leiter
der Offenen Tür stets ein Jesuit. Nach Pater
Stillfried, der bis zu seinem Tod 1974 die OTB leitete,
stand ihr P. Herbert Günther (1974-1980) vor.
Prägende Persönlichkeit war 18 Jahre lang P.
Werner Herbeck (1980-1998). Seit Anfang des Jahres
leitet der 42jährige P. Johannes Fischer die
Offene Tür.
Die Situation von Anna F. ist noch schwieriger
geworden. Denn zusätzlich zu ihren privaten
Problemen droht jetzt auch noch die Arbeitslosigkeit.
Die Boutique, in der sie arbeitet, kämpft ums
Überleben. Die Chefin steht unter Druck, das Klima
unter den Kolleginnen wird immer schlechter. Nachts
kann Anna oft nicht schlafen oder sie träumt
schlecht. Eine Bekannte gibt Anna den Tip:
Geh doch mal zur Offenen
Tür.
Zeithaben, Zuhören - das ist charakteristisch
für die Einstellung der Offenen Tür zu ihrer
Arbeit. Es geht um Verstehen, nicht um Bewerten. Die
Offene Tür begreift sich gern als
Seismograph der Gesellschaft, das
heißt, sie versucht die jeweils aktuellen Probleme
aufzunehmen und damit umzugehen. Einige Probleme
bleiben über die Jahre ähnlich, andere
wechseln. In den ersten Jahren stehen vor allem
persönliche Probleme auf dem Plan, Fragen nach
Glauben und Kirche. Die Offene Tür ist aber auch
eine erste Anlaufstelle für Flüchtlinge aus
dem Osten, besonders für die Christen. Nach dem
Mauerbau verstärkt sich die politische Dimension:
Die Offene Tür versucht, zwischen Ost und West zu
vermitteln. Viele Westdeutsche informieren sich hier
über die Lebenssituation der DDR, insbesondere die
der Christen. Ab den siebziger Jahren nehmen die
sozialen Probleme zu: Es gibt immer mehr Alkoholiker,
Obdachlose, Asylbewerber, die ersten AIDS-Kranken. Die
Offene Tür bietet verstärkt Raum für
Selbsthilfegruppen. Unvergessen auch das Engagement der
Offenen Tür, als Hausbesetzungen ein großes
Thema in West-Berlin werden. Als die Räume des
Bischöflichen Ordinariats zu einem
Sit-in genutzt werden, wird P.
Herbeck gerufen, um die Situation zu entschärfen.
Er übernachtet eine Nacht bei den Besetzern,
versucht, ihr Anliegen zu verstehen und zieht mit ihnen
zur weiteren Diskussion um in die Offene Tür.
Trotz aller Gewalt und Gegengewalt machten die
Hausbesetzer in Berlin auf vieles aufmerksam,
was in unserer Gesellschaft krank ist oder krank
macht, schreibt Herbeck damals im
Verbandsblatt des Berliner Kolpingwerkes.
Dran bleiben an den Problemen dieser Welt und dieser
Stadt - das ist auch heute das Ziel der Offenen
Tür. Im Gegensatz zu den siebziger Jahren liegt
der Schwerpunkt der Arbeit heute im psychologischen
Bereich. Der neue Leiter P. Johannes Fischer nennt die
Hauptprobleme: Depression, Angst,
Selbstmordgedanken, Beziehungskrisen. Neben
den psychologischen Problemen ist Arbeitslosigkeit und
Vereinsamung ein großes Thema. Deshalb setzt die
Offene Tür verstärkt auf Gruppenarbeit. Es
gibt ständige Angebote für Frauen und
Arbeitslose, Wochenendseminare zu Themen wie
Streßbewältigung oder
Spiritualität und Arbeit und
Reihen wie Leib- und
Meditationsübungen. Darüberhinaus
bietet die Offene Tür Einzelberatungen für
Menschen in Krisen oder für Migranten an. Jeden
Mittwoch wird um 12 Uhr die Eucharistie gefeiert. Anna
F. sitzt inzwischen skeptisch in einem kleinen Raum der
Offenen Tür. Zwar hat die Bekannte viel Gutes von
der Offenen Tür erzählt und im Prinzip ist
ihr ein Priester als Gesprächspartner lieb.
Andererseits fürchtet sie, mit dem dann
doch nicht offen reden zu können. Sie
will schließlich keinen Zeigefinger, sondern
möchte erzählen können von ihrem Leben
hier in Berlin, ohne wenn und aber. Erst langsam taut
sie auf und erzählt von ihren Sorgen und
Nöten, ihren Fragen nach dem Sinn. Ihr
Gegenüber Michael Longard hört ruhig zu,
stellt ab und zu eine Frage. Allein schon durch das
Erzählen wird Anna einiges klarer.
Spiritualität, Therapie,
Solidarität sollen die drei Säulen
der Offenen Tür sein. Im neuen Team wurde deshalb
der soziale Bereich verstärkt. Zur Mannschaft
gehören die klinische Psychologin Anna Jung, die
Sozialpädagogin Gabriele Vitt-Urbatzka, die
Priester und Psychologen Johannes Fischer und Michael
Longard, und die Religionswissenschaftlerin Dr.
Angelika-Benedicta Hirsch. Alle fünf sind
therapeutisch ausgebildet. Zwar wendet sich die Offene
Tür nach wie vor an aktive Mitglieder der Kirche,
sie will aber immer mehr auch andere Zielgruppen
ansprechen, sagt P. Fischer. Vor allem die Medien will
er verstärkt nutzen, um präsent bei den
potentiell Hilfesuchenden zu sein. Denn über die
Kirchengemeinden erreicht die Offene Tür heute
weniger Menschen als früher. Die Kirche
Kirche außerhalb der Kirche,
die Gruppe derer, die glauben, sich aber in einer
Gemeinde zu Hause fühlen, scheint zu wachsen. Die
Offene Tür will hier in eine Lücke
springen.
Natürlich möchte Anna nicht gleich bei ihrem
ersten Gespräch alle Karten offenlegen. Aber sie
genießt es, daß einer zuhört und fragt,
ohne zu bewerten. Und Michael Longard wirkt nicht wie
ein Blinder, der von der Farbe spricht. Als Anna wieder
draußen steht, denkt sie sich: Das tat gut; das
Erzählen, die Aufmerksamkeit, die Ideen, die ihr
dabei schon gekommen sind. Sie ist zuversichtlicher,
daß sie etwas an ihrer Situation ändern kann.
Aber dafür braucht sie ein bißchen Hilfe. Sie
will auf jeden Fall wiederkommen. Die Offene Tür
steht ihr - und jedem anderen, der Hilfe braucht -
offen.
Elena A. Griepentrog
Nr. 29/99 vom 25. Juli 1999
(C) by kkz
|