Pioniere und FDJ-ler sind immer bereit
Zehn Jahre nach der
Wende: Lebendige Auseinandersetzung mit
DDR-Vergangenheit an der
Theresienschule
Berlin - Während aus den Lautsprechern das
bekannte und beliebte Lied Pioniere voran,
lasst uns vorwärts gehn über den
Schulhof der Theresienschule dröhnt, hissen
eifrige FDJ-ler schon mal die schwarz-rot-goldene Fahne
mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Zum 50.
Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik haben
sie es sich natürlich nicht nehmen lassen, stolz
ihre blauen FDJ-Blusen zu tragen. Bevor man die
Auszeichnung der Besten zelebriert, hat ein FDJ-ler die
Ehre, das Jugendbildnis des Generalsekretärs des
Zentralkommitees der Sozialistischen Einheitspartei
Deutschlands und Vorsitzenden des Staatsrates der
Deutschen Demokratischen Republik Erich Honecker unter
dem Jubel der angetretenen Pioniere und FDJ-ler in das
militärisch ausgerichtete Appell-Rechteck zu
tragen. Die Freundschaftratsvorsitzende macht Meldung:
Die Schule ist zum Fahnenappell
vollzählig angetreten. Nach der
Begrüßung Seid bereit - Immer
bereit kann die Ehrung der Sieger im
sozialistischen Schulwettbewerb beginnen. Quer durch
die einzelnen Klassenstufen erhalten Schülerinnen
und Schüler Orden und Ehrenspangen für
vorbildliches Lernen an der sozialistischen
Schule, hervorragende
Aktivitäten im fröhlichen Singeclub
oder den fleißigen Bericht über die
Patenbrigade im sozialistischen Kombinat.
Frenetischer Beifall unterstreicht die
unverbrüchliche Solidarität, die die
jeweiligen Klassenkollektive mit ihren Besten
empfinden. Die FDJ-Sekretärin macht der jungen
Garde während ihrer kurzen Ansprache wiederholt
deutlich, dass Pioniere und FDJ-ler die Kampfreserve
der Partei und die Grundlage der
Arbeiter-und-Bauern-Macht bilden. Dann ist der
Fahnenappell beendet, und alle Schülerinnen und
Schüler, Lehrerinnen und Lehrer schreiten zu neuen
Taten im Kampf um den weltweiten Sieg des
Sozialismus.
So war das wirklich? fragt ein
Junge aus der 6. Klasse ungläubig. Das
kann ich mir gar nicht vorstellen. Zehn Jahre
nach dem Fall der Mauer sind es heute nur noch ganz
wenige Schüler, die eine dunkle Erinnerung aus
ihren ersten Schuljahren bewahrt haben. Die 1. oder 2.
Klasse absolvierten sie noch im Getriebe der
DDR-Volksbildung. Ich kann mich eigentlich
nur noch an die Westpackete erinnern, die wir zu
Weihnachten bekamen, sagt ein Mädchen
aus der 10. Klasse. Gemeinsam mit ihren
Klassenkameraden lässt sie sich von Maria Tiller
und Cordula Schonert über die DDR berichten. Die
beiden Schülerinnen gehören zum
PW-Leistungskurs der 13. Klasse, der das
Fahnenappell-Spiel einstudiert und die Ausstellung
50 Jahre DDR - was bleibt von ihr?
zusammengetragen hat. Am vergangenen Donnerstag wurde
die Dokumentation auf den Fluren des Hauptgebäudes
der Theresienschule eröffnet. Die Idee für
Spiel und Ausstellung stammt von Andreas Kühler,
Lehrer für Politische Weltkunde (PW) und
Geschichte. Die bei dem Schulprojekt anfallenden Kosten
bezahlt er aus seinem eigenen Portmonee. Mit
Unterstützung von Henning von Gynz-Rekowski und
Vinzenz Münster ist es Kühler gelungen,
lebendigen Unterricht zu erteilen und seine
Schüler für ein bemerkenswertes Engagement zu
motivieren.
Seien wir froh, dass wir in einem freien Land
leben dürfen. Trotz aller Probleme und
Schwierigkeiten, die es auch jetzt gibt.
Pfarrer Peter Roske brachte es auf den Punkt. Zum
Abschluss des vor Ausstellungseröffnug und
Fahnenappell gefeierten ökumenischen
Schulgottesdienstes der Theresienschule erinnerte er an
den heute häufig verdrängten, mitunter gar
tatsächlich vergessenen Alltag im realen
DDR-Sozialismus. Der Pfarrer von St. Josef in
Berlin-Weißensee erinnerte an Stasi, Mauer,
Minenfelder und Selbstschussanlagen, an ideologische
Phrasen und an den Volkspolizei-Terror, der
während der Agonie des Sozialismus rund um den 40.
Jahrestag des ersten Staates der Arbeiter und
Bauern auf deutschem Boden 1989 sein
menschenverachtendes Gesicht zum letzten Mal offen
zeigte.
Für Liebhaber von Briefmarken ist die Sache heute
einfach: Die DDR ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet.
Historiker haben es da bedeutend schwerer. Obwohl die
Diktatur des Proletariats erst zehn Jahre
zurückliegt, ist ihre Dokumentation heute, zumal
für Schüler, nicht ganz einfach. Viele
Gegenstände wurden nach der Wende vernichtet,
nicht nur von der Stasi. Um so erstaunlicher, dass es
Kühler und seinen Schülern gelungen ist, ein
Motorrad der DDR-Volkspolizei in die Theresiernschule
zu stellen. Eine MZ TS 250, Baujahr 1975, mit
luftgekühltem Zwei-Takt-Motor. In mehreren
Vitrinen werden Personalausweise, Reisepässe,
Führerscheine, Wehrdienstausweise, Anträge
auf Ausreise aus der DDR, Urkunden für
hervorragende Leistungen im Sozialistischen Wettbewerb,
Orden und Ehrennadeln, Briefmarken und Banknoten
gezeigt. Propaganda-Literatur wie etwa das Buch
Walter Ulbricht - Arbeiter,
Revolutionär, Staatsmann fehlt ebenso
wenig wie das in vielen Konsum- oder HO-Geschäften
gerne ausgehängte Schild Heute keine
Ware. Auch gibt es einen Exkurs in die
DDR-Beatmusik. In der an der Wand befestigten Black-Box
befindet sich ein CD-Player. Über Kopfhörer
kann der Ausstellungsbesucher in Songs von Karat,
Silly, den Puhdys, von Manfred Krug oder Bettina Wegner
reinhören.
Während ihres Ausstellungs-Rundgangs sind die
Mädchen und Jungen der 10. Klasse sehr aufmerksam.
Gespannt lauschen sie den Ausführungen von Maria
Tiller und Cordula Schonert. Die Mädchen
erklären die einzelnen Schaukästen, die nach
akribischen Recherchen von den Schülern des
Leistungskurses selbst angefertigt wurden. Allein oder
in kleinen Gruppen haben sie zu Themen wie
Die Regierung der DDR,
Agitprop - die Massenmedien,
Die Grenze: 10 Jahre nach dem
Mauerfall, Kulturpolitik der
DDR oder Ich liebe euch doch
alle... - VEB Horch und Guck gearbeitet. Die
Ergebnisse zeichnen aus der Sicht von Schülern,
die die DDR lediglich verschwommen in Erinnerung haben,
ein realistisches Bild vom Alltag im
Arbeiter-und-Bauern-Paradies. Nach dem Rundgang
beschreibt ein Junge aus der 10. Klasse seinen ersten
Eindruck so: Bloß gut, dass wir heute in
Freiheit leben.
Thomas Steierhoffer
Nr. 41/99 vom 17.Oktober
1999
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