Doch jedes Kind hat ein Recht auf
Leben
Berliner
Franziskanerin bemüht sich um
Findelkinder
Schönow - Lange ist es noch
nicht her, da berichteten Berliner Lokalzeitungen von
einem Fall, der die Gemüter und die Herzen der
Menschen bewegte. Ein 15jähriges Mädchen
hatte ihre Schwangerschaft vor den Eltern verheimlicht,
aus Angst vor ihrem Vater. Auch von der Entbindung
wollten die Eltern im Zuge der polizeilichen
Ermittlungen nichts mitbekommen haben. Das Mädchen
hatte ihr Kind in der elterlichen Wohnung, Wand an Wand
mit dem Schlafzimmer von Mutter und Vater, auf die Welt
gebracht. In seiner Verzweiflung wußte sich die
Minderjährige keinen anderen Rat, als das
Neugeborene aus einem Fenster im oberen Stockwerk der
Marzahner Wohnung zu werfen.
Die Statistik der Kriminalpolizei weist in den letzten
Jahren zunehmend Fälle aus, an denen eine
erschreckende Tendenz ablesbar wird. So hatte eine
Duisburger Kripo-Beamtin 1998 allein in ihrem
Zuständigkeitsbereich neun Fälle zu
bearbeiten, in denen tote Säuglinge und
Kleinkinder gefunden worden waren. Eine Berliner
Journalistin war darauf aufmerksam geworden und hatte
bei einem großen Abfallentsorgungsunternehmen in
der Hauptstadt recherchiert. Ihre Frage, ob die
Mitarbeiter während der Müllentsorgung
eventuell schon einmal auf eine Kinderleiche
gestoßen seien, wurde vehement zurückgewiesen
und verneint. Ein Tabuthema. Fakt ist, in der
Bundesrepublik Deutschland, einem der reichsten
Länder auf der Welt, werden Menschen
tatsächlich entsorgt, auf den
Müll geworfen. Säuglinge und Kleinkinder
werden aus den unterschiedlichsten Motiven getötet
oder ausgesetzt.
Schwester Monika Hesse ist Franziskanerin. Kurz nach
der Wende war sie eine der Initiatorinnen der
Suppenküche für Obdachlose im
Franziskanerkloster in der Pankower Wollankstraße.
Sie weiß um die erschreckende Tendenz und
versucht, etwas dagegen zu tun. Wir sind eine
Wegwerfgesellschaft, deren trauriger Höhepunkt der
weggeworfene Mensch ist, sagt die Ordensfrau
im Gespräch mit der KirchenZeitung. Und sie
fügt hinzu: Immer wieder geraten Frauen
und Mädchen in große Not, weil sie aus Angst,
Verzweiflung oder Hilflosigkeit für sich keinen
Ausweg und für ihr Kind keinen Platz in der Welt
sehen. Oft würden sie von den
Vätern der Kinder, von Verwandten oder von der
Gesellschaft alleingelassen. Doch jedes Kind
hat ein Recht auf Leben!
Ende 1998 hatte Schwester Monika im brandenburgischen
Schönow (Landkreis Barnim) ein Haus gekauft, um
hier Findelkinder und gefährdete Kleinstkinder zu
umsorgen. Findelkinder? Wer denkt bei diesem Stichwort
nicht sofort an das Ende des vorigen Jahrhunderts mit
all seinen sozialen Spannungen und Problemen? Wer denkt
nicht an Großfamilien, die in
krebsgeschwürartig wachsenden Ballungszentren wie
Berlin unter erbärmlichsten Arbeits- und
Wohnbedingungen ihr Leben fristeten? Wem fallen nicht
die Berliner Hinterhofghettos und die Zeichnungen
Heinrich Zilles ein? Und dann taucht heute der Begriff
Findelkinder wieder auf? Es ist
tatsächlich so, daß wir wieder mit diesem
Problem konfrontiert sind, unterstreicht
Schwester Monika. Bereits während ihrer
Tätigkeit als Leiterin der Suppenküche habe
sie zunehmend beobachten müssen, daß
Straßenkinder und junge Mütter mit ihren
Kindern zu den Mahlzeiten in die Wollankstraße
gekommen seien. Ihr sei klar geworden, daß die
Franziskaner hier zu einer neuen, wichtigen Aufgabe
gerufen werden. Schwester Monika: Es liegt
jetzt bestimmt schon vier oder fünf Jahre
zurück, da wir zum ersten Mal darüber
gesprochen haben, etwas für ausgesetzte Kinder zu
tun. Der Vorsatz mußte reifen, und er
ist gereift. Zaghaft öffnen sich junge Knospen und
zartes Grün ist bereits zu sehen. Gemeinsam mit
Freunden gründete die Franziskanerin einen Verein.
Den Verein Kinderhaus Sonnenblume
e.V. Schwester Monika: Der Verein
wurde gegründet mit dem Ziel, Leben zu
schützen, Leben zu ermöglichen und zum Leben
zu ermutigen. Über Kontakte, die
Bekannte zu einem Makler unterhielten, ergab sich Ende
vergangenen Jahres die einmalige Chance, ein gerade vom
Keller bis zum Dachboden grundsaniertes Haus im
Zuständigkeitsbereich des Amtes
Panketal zu kaufen. Ein
westdeutscher Unternehmer hatte das 1938 errichtete
Gebäude und das etwa 1.200 Quadratmeter große
Grundstück für seinen Sohn herrichten lassen.
Dieser konnte das Haus dann jedoch nicht beziehen, so
daß es zum Verkauf stand. Wir
mußten uns ganz schnell entscheiden,
erinnert sich die Schwester. Das Erzbischöfliche
Ordinariat habe mit einer Bürgschaft über
einen bedeutenden Betrag geholfen. Das bestätigte
auch der Berliner Generalvikar, Prälat Roland
Steinke, gegenüber der KirchenZeitung.
Der Kardinal hält das Projekt für
enorm wichtig, betonte Steinke. Auch seien
Spendengelder verwandt worden. Mit einem
Darlehen der katholischen Pax-Bank konnten wir das Haus
dann tatsächlich erwerben. Sie habe
heute das Gefühl, so Schwester Monika weiter,
der liebe Gott hatte schon überall die
Leute hingestellt.
Nachdem die Frage der Ablösung in der Pankower
Suppenküche entschieden war - Sozialarbeiter
Bruder Peter hat die Leitung der Suppenküche
übernommen -, zog Schwester Monika nach
Schönow. Im Erdgeschoß des Hauses bewohnt sie
jetzt ein kleines Zimmer. Die beiden großen
Räume sind bereits mit Kinderbettchen,
Wickeltischen und Regalen eingerichtet. Auch Puder,
Creme, Baby-Öl, Windeln, Babykleidung und
Spielzeug liegt in den Schränken bereit. Fünf
bis maximal zehn Kinder im Alter von null bis zwei
Jahren können hier betreut werden. Unser
Ziel ist es nicht, hier ein Kinderheim einzurichten.
Vielmehr wollen wir im Sinne der Kinder eine optimale
Lösung suchen und finden. Konkret
heißt das: Der Aufenthalt der Kinder soll auf drei
Monate beschränkt sein. In dieser Zeit
möchten Schwester Monika und ihre Freunde entweder
die leiblichen Eltern finden und eine
Rückführung in diese Familien
ermöglichen oder die Kinder adoptieren lassen.
Innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen wird der Verein
unter anderem mit Jugendämtern und
Adoptionsstellen zusammenarbeiten. Ganz wichtig dabei:
die Anonymität soll bewahrt werden. Wenn
alles klappt, können Ostern die ersten Kinder
kommen, hofft Schwester Monika. Doch das ist
leichter gesagt als realisiert. In
Rußland könnte ich so ein Projekt sofort
beginnen. Deutschland ist jedoch so
verbürokratisiert, daß spontane Hilfe kaum
möglich ist. Jetzt gilt es, den
zuständigen Stellen im Land Brandenburg, darunter
dem Landesjugendamt in Oranienburg, ein
tragfähiges Konzept vorzulegen. Erst dann
erhält der Verein Kinderhaus
Sonnenblume die gesetzlich vorgeschriebene
Betriebsgenehmigung.
Viel organisatorisches Geschick ist derzeit gefragt.
Schon jetzt haben sich bei der Franziskanerin, die von
Beruf Kinderschwester ist, zehn Frauen gemeldet,
darunter Erzieherinnen und eine Psychologin, die auf
ehrenamtlicher Basis im Kinderhaus helfen und
mitarbeiten möchten. Das Ganze muß
auf einem christlichen Fundament ruhen, sonst wird es
nichts, betont die Franziskanerin. Deshalb
verwundert es kaum, daß sie im Dachgeschoß
des Hauses eine kleine, franziskanisch-bescheidene
Kapelle eingerichtet hat. Kardinal Sterzinsky
hat es jetzt gestattet, daß wir in der Fastenzeit
und über Ostern hier die Eucharistie
gegenwärtig haben dürfen. Und die
Schwester fügt hinzu: Wenn wir nicht
mehr reden können, müssen wir
beten.
Die Medien in Berlin und Brandenburg interessieren sich
sehr für das Projekt. Jetzt hat sich auch das
ORB-Fernsehen angemeldet. In seiner Reihe
Zeit läuft werden soziale
Initiativen vorgestellt und unterstützt.
Prominente telefonieren für einen guten Zweck.
Wenn die Sendung zustande kommt, möchten
wir um den Ausbau des noch nicht ganz fertigen
Dachgeschosses bitten, sagt die
Franziskanerin.
Thomas Steierhoffer
© by Thomas
Steierhoffer
Nr. 8/99 vom 28.Februar 1999
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