Eine Familie für Matthias

Ein Elternpaar, das heute fünf Kinder großzieht, ist eher die Ausnahme. Wer zudem noch ein behindertes, fremdes Kind zu Hause aufnimmt, stößt meist auf Unverständnis. Entgegen aller Vorbehalte im gesellschaftlichen Umfeld haben
Heike und Lienhard Lehmann ein Kind, das niemand haben wollte, bei sich aufgenommen

Berlin - Zum wiederholten Mal legt Matthias die Schnürsenkel über Kreuz, windet und zieht sie fest, formt mühsam die Schlinge - doch die Schleife will ihm einfach nicht gelingen. Nicht gestern, nicht heute. „Bestimmt schaffst du es morgen“, ermutigen die Geschwister. Doch Matthias Konzentration richtet sich längst auf die gemeinsame Fahrradtour. Wie ein Brausewind saust er als erster davon. Drei Jahre hat er gebraucht, das Radfahren zu erlernen. Jetzt tut er’s verwegen und ohne Blick auf Hindernisse und Gefahren. Seit acht Jahren lebt Matthias als Pflegekind bei Familie Lehmann mit fünf Geschwistern, Mutter und Vater. Mit seinen 12 Jahren verfügt Matthias über die Fähigkeiten eines etwa Siebenjährigen. Heike und Lienhard Lehmann - sie ist Hausfrau und er arbeitet als Arzt im klinischen Dienst- hörten von Matthias über eine Bekannte, die in einem Kinderheim arbeitete. Sie erzählte öfter von einem Jungen, den sie selbst sehr mochte. Ein kleiner süßer Fratz sei er und so allein. Keiner wollte ihn haben. Die leiblichen Eltern trennten sich von Matthias, als sie erfuhren, dass der Sohn mit einer Behinderung aufwachsen würde. Diagnose frühkindliche Hirnschädigung mit hyperkinetischem Syndrom. Seit dem Säuglingsalter lebte der Junge nur im Kinderheim, zuletzt auf der geschlossenen Station einer Kinderpsychiatrie.
Die Lehmanns spielten schon länger mit dem Gedanken, ein Pflegekind aufzunehmen. „Wir haben gesagt, wir schauen uns den Jungen mal an. Und als wir ihn kennenlernten, haben wir gedacht, der gehört zu uns.“ An die erste Begegnung erinnern sie sich noch genau. „Wir standen plötzlich in einem Zimmer, wo mehrere Kinder in Rollstühlen saßen und sich nahezu gar nicht bewegten! Oder wie das so üblich ist bei Behinderten, sich selbst geschlagen haben. Und dann gab es Kinder, die über ihrem Bett noch ein Gitter hatten, wahrscheinlich, weil sie sonst hinaus gesprungen wären und man Sorge hatte, dass sie sich etwas antun könnten. Zwischen diesen Kindern lief einer frei umher, rüttelte hier und guckte da. Und als er uns sah, kam er auf uns zu, faste uns an der Hand.“ Das Ehepaar war von ihm so verzaubert, daß sie glaubten, mit ihm zurecht zukommen. „Matthias ist mit uns regelrecht durch das Klinikgelände gestürzt. Er raste uns vorneweg, knipste an sämtliche Lichtschalter, drückte an Fahrstuhlknöpfe oder Türklinken. Wir konnten ihm eigentlich nur hinterher rennen. Das war unsere erste Begegnung.“ Matthias wurde eine Herausforderung für die beiden. Gewarnt wurden sie von allen Seiten. Vielleicht wollten sie es auch den Ärzten, Psychologen und Mitarbeitern vom Jugendamt zeigen, die ihnen allesamt bescheinigten, dass Matthias nicht vermittelbar, sozusagen „familienuntauglich“ sei, da er laut eines Gutachtens stets und ständig abzuhauen versuche. Heike und Lienhard Lehmann wollten es unbedingt mit ihm versuchen. Erst nahmen sie ihn stundenweise zu sich, doch nach zwei Wochen schon lebte er ganz bei ihnen. Beide ahnten damals nicht, was mit dem Jungen wirklich auf sie zu kam und wie abweisend oft auch die Umwelt auf ein Problemkind reagierte. Heike Lehmann, die die Hauptlast bis heute trägt, fragt sich noch manchmal, wie sie die neue Situation damals überhaupt gemeistert habe. „Matthias stand früh um halb sechs auf und raste durch die Gegend. Stieß alle Türen auf und schmiß alles durch die Gegend, riß runter, was er finden konnte. Und dann habe ich mich den ganzen Tag mit ihm befaßt. Den Haushalt habe ich nachts gemacht, wenn er geschlafen hat.“ Lienhard Lehmann fügt hinzu: „Aber das war spät, weil er ja oft um zehn noch nicht schlief. Und du mußtest dich zu ihm legen. Wir hatten gehört, dass er in der Klinik auch angebunden wurde, weil er keine Ruhe fand. Das kam für uns nicht in Frage. Im Kinderheim bekam er Medikamente. Doch wir wollten ihn weder anbinden, noch Beruhigungsmittel geben. Ein Matratzenlager auf der Erde haben wir hergerichtet, damit er nicht herunterfallen kann. Er verhielt sich wie ein „Steh-auf-Männchen“. Es ging nur hoch-runter-hoch- runter“. Oft war Heike Lehmann ausgebrannt. Matthias ließ ihr keine freie Minute, schlief nicht, war umtriebig, riss aus. Die Unbeschwertheit in der Familie war weg. Weg blieben auch Nachbarkinder - mit Matthias wollten und konnten sie nicht spielen.
Selbst die Eltern mussten auf Besuch verzichten, verloren manche ihrer Freunde, weil sie auf Unverständnis mit dem Jungen stießen. Sogar ihre eigenen Eltern hatten anfangs Vorbehalte. Oma Edith unterstützt heute den Haushalt der Großfamilie, wo sie nur kann. Daß sie skeptisch anfangs war, gibt sie unverhohlen zu. „So ein Kind wie Matthias habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Er war wie ein Irrer, rannte von der Küche ins Bad. Und im Bad zog er an der Spülung. Raste wieder in die Küche: Kühlschrank auf und zu, und wieder auf und zu. Dann wieder ins Bad, Wasserhahn auf. Dann zur Kühltruhe, Deckel auf. Ich konnte ihn nicht einen Augenblick fixieren. Ich wollte ihn auf den Schoß nehmen, ihm etwas vorlesen! Es ging einfach nicht. Ich weiß noch, dass ich in der Nacht geheult habe und dachte, dieses Kind würde die ganze Familie kaputt machen.“
Das junge Ehepaar hatte für sich selbst kaum noch Zeit. Trotz Durststrecken fühlt sich Heike Lehmann ihrem Mann seither näher, als zuvor. „Wir hatten das ’Projekt’ zusammen begonnen und wollten es auch gemeinsam durchstehen. Dass wir uns aufeinander verlassen konnten, war mir sehr wichtig. Unsere Beziehung ist eher gewachsen.“ Inzwischen ist Matthias aus der Familie nicht mehr wegzudenken. Die Geschwister lieben und zanken sich. Auch wenn er nervt und stresst, für sie ist er auch so etwas wie eine Lebensschule.
Bruder Lienhard, der aus Familientradition den gleichen Vornamen wie sein Vater und Großvater trägt, spricht von Matthias als eine Bereicherung. „Durch ihn habe ich einfach mitbekommen, wie man mit Behinderten umgeht. Dass es gar nicht so einfach ist, dass Matthias oftmals gar nicht böswillig Schaden anrichtet, sondern, dass er es einfach gar nicht besser kann.“ Lienhard ist mit seinen 14 Jahren der Älteste unter den Geschwistern, hat Matthias am meisten beaufsichtigt und betreut. Kein Wunder, dass der jetzt bei ihm beinahe schon auf’s erste Wort hört. Auch die dreizehnjährige Katharina hat den neuen Bruder in ihr Herz geschlossen. Die offene Familienatmosphäre bei Lehmanns bringt es mit sich, dass Gefühle von Neid und Eifersucht beinahe im Keime ersticken, weil sie nicht hinterm Berg gehalten werden müssen. „Manchmal habe ich wirklich gedacht, oh, wenn er jetzt nicht da wär’ was hätten wir alles Schönes machen können. Aber es war halt normal, dass er mehr Aufmerksamkeit bekam, und so habe ich mich daran gewöhnt. Es macht eben auch viel Spaß mit ihm. Fahrrad fahren oder mit ihm Baden, das ist immer wieder schön. Wir haben ein Springseil, so ein Hüpfespiel. Am Anfang geht es mit ihm gut, aber dann verliert er die Geduld und rennt weg.“ Lienhard ist sicher: „Wäre er nicht da, würde mir etwas fehlen. Allein seine lustigen Bemerkungen, da gibt es immer was zu lachen. Auch wenn jemand von uns bedrückt ist oder sich weh getan hat, dann kommt er gleich angerannt, tröstet und pustet und kann ganz lieb und zärtlich sein. Nur wenn Matthias mit dem fünf Jahre jüngeren Paul spielt, können schon mal die Fetzen fliegen. Paul ist ihm aufgrund der etwa gleichen geistigen Ebene ein Entwicklungsmotor und Meßlatte zugleich. Wenn Matthias seinen Rappel bekommt, schubst und stößt er Paul, dass es Tränen und Wut auf beiden Seiten gibt. Doch werden die beiden auseinander gesperrt, gibt es erst recht Knatsch. Sanft und hingebungsvoll verhält sich Matthias hingegen zu den zweijährigen Zwillingsmädchen. Sie lassen sich gern von ihm streicheln, hin und hertragen oder die Dinge des Lebens erklären. Wenn Matthias selbst in die Rolle des Lehrers schlüpfen kann, versucht er den Kleinen das beizubringen, was ihm selbst - doch ach so schwer - zu gelingen schien. Feste Regeln sind es, nach denen Matthias Leben abläuft, sonst würde es nicht funktionieren. Dabei setzen die Eltern auf den Zusammenhalt in der Familie, auf Gespräche und getroffene Vereinbarungen. „Mit seiner Unberechenbarkeit zurechtzukommen, ist das schwierigste“, meint Heike Lienhard. „Dass man immer wieder die Hoffnung hat, wenn er sagt: Mama es klappt, gib mir doch bitte das Radio. Und irgendwann läßt man sich erweichen, und er darf mal eine Viertelstunde Radio hören, dann ist es nach zehn Minuten schon wieder kaputt.“ Was der blonde Knirps im Laute seines Daseins schon alles angestellt oder in Einzelteile zerlegt hat, davon könnten die Eltern und Geschwister viele Geschichten erzählen. Sie tun es mit erstaunlichem Humor. Heike Lehmann sieht auch die Sonnenseiten im Zusammenleben mit einem behinderten Kind „Für mich sind es Momente des Glücks, wenn der Junge abends im Bett liegt und sagt: „Mama, ich hab dich lieb, das war ein schöner Tag heute“ Und langweilig ist der Alltag bei Lehmanns wahrlich nicht. Sechs Kinder bringen Leben in das kleine Haus am Stadtrand von Dresden. Geduld und liebevolle Konsequenz haben Matthias inzwischen lebensfähig gemacht. Jedoch, die Ideen, ihn in seiner geistigen Entwicklung zu fördern, haben die EItern um einiges zurückschrauben müssen. Matthias besucht eine Förderschule für geistig Behinderte. Versuche, ihn in eine Integrationseinrichtung unterzubringen, scheiterten schon im Kindergartenalter. Immer waren Erzieher und Lehrer überfordert „Anfangs glaubten wir, wenn wir intensiv mit ihm sprechen üben, wird er vielleicht innerhalb eines Jahres Fortschritte machen. Daraus ist nichts geworden. Jetzt ist es so: die Schritte, die er lernt, werden immer kleiner. Manchmal ziehe ich Vergleiche zu anderen behinderten Kindern: die können eben schon einen Buchstaben und er nicht, wieder ein Rückschritt. Dann denke ich, wir dürfen unsere Ansprüche nicht zu hoch stellen, das Kind hat seinen Entwicklungsweg, und da müssen wir lernen, uns zu gedulden. Die Zeichen der geistigen Behinderung sind geblieben, aber die psychischen Verletzungen des Heimes, die sind geheilt.“ In der Geborgenheit der Familie hat Matthias eine seelische Heimat gefunden - beste Voraussetzung und Hoffnung, um eines Tages auch selbstbestimmt leben zu können.

Christel Sperlich
Nr. 51/99 vom 26. Dezember 1999

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